"Armut ist nicht immer sichtbar"

"Armut ist nicht immer sichtbar"
"Caffè sospeso" hat Österreich erreicht: Das Wiener Lokal Tachles ermöglicht seinen Gästen, Kaffee und kleine Speisen für Bedürftige zu spenden. Initiator Daniel Landau erklärt im KURIER-Interview, warum.

Am Vormittag ist es noch ruhig im Kulturcafé Tachles am Wiener Karmeliterplatz. Besitzer Daniel Landau sitzt am hölzernen Tisch bei Kaffee und Zigarette, Hündin Jessica flitzt durchs Lokal. Auf der Wand hängt eine schwarze Tafel: Neun Espresso, dreizehn Melange, steht dort mit Kreide geschrieben. Seit drei Wochen bietet das Tachles als erstes Lokal Österreichs "caffè sospeso" an. Bei dieser Initiative können die Gäste Kaffee für Bedürftige im Voraus bezahlen. Der gespendete Kaffee wird dann auf der Tafel vermerkt und kann von jedem in Anspruch genommen werden, der sich kein Getränk leisten könnte (Details siehe Hintergrund).

Im Interview mit dem KURIER spricht Initiator Daniel Landau über die Reaktion seiner Gäste, Armut in Österreich und warum ein kostenloser Kaffee tatsächlich einen Unterschied macht.

KURIER: Herr Landau, kann man mit einem kostenlosen Kaffee etwas verändern?

Daniel Landau: Ja. Ich habe schon das Gefühl, dass jeder auf diese Weise anonym und niederschwellig anderen Menschen helfen und etwas Gutes tun kann. Die Welt wird man damit zwar nicht retten. Aber für mich hat die Aktion etwas wienerisch-charmantes, weil es so einfach ist. Ich lade dich jetzt auf einen Kaffee ein, weil es mir gut geht. Es ist eine anonymisierte Freundschaftsgeste.

Entstanden ist diese Idee ja in Neapel - nun hat sie durch Ihre Initiative Wien erreicht. Wie sind Sie auf das Konzept des "caffè sospeso" gestoßen?

Eine Tachles-Mitbesitzerin hat die Idee auf einer polnischen Website gesehen. Wir haben dann im Team überlegt, wie wir das hier umsetzen können. Weil wir nicht vordergründig ein Kaffeehaus sind, wurde das Konzept dann auf kleine Speisen und andere Getränke ausgeweitet.

Seit ein paar Wochen gibt es das "sospeso"-Prinzip also im Tachles. Wie würde ein erstes Fazit lauten?

Besonders gut finde ich die Diskussionen, die sich aus der Aktion ergeben: Was ist Armut? Was ist Luxus? Ist es selbstverständlich in einem Kaffeehaus sitzen zu können? Die Resonanz unserer Gäste ist außerdem sehr, sehr positiv. Viele sagen uns: „Das ist wichtig und unterstützenswert.“ Am Anfang war ich überwältigt, wie viele Gäste spenden. Dabei fordern wir nicht aktiv dazu auf. Niemand soll sich verpflichtet fühlen. Trotzdem wird eindeutig mehr gegeben als angenommen. Etwas anzunehmen fällt vielen schwer.

Wer nimmt die Aktion denn besonders in Anspruch?

Gemischt: Bedürftige, Studenten, Alleinerzieher. Allerdings sind wir keine therapeutische Stelle. Wir fragen nicht nach, warum sich jemand etwas nicht leisten kann. Es gibt ja ganz große Hemmschwellen in der Gesellschaft, sich als arm zu outen. Und eben auch zuzugeben, dass man sich keinen Kaffee leisten kann. Letzte Woche war z.B. eine alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern hier, die seit Jahren kein Café mehr besucht hat.

Hat es sie überrascht, wieviele Menschen sich keine Tasse Kaffee leisten können?

Nicht unbedingt. Armut existiert und ist nicht immer sichtbar. In Österreich gibt es sicher eine bessere staatliche Unterstützung als in anderen Ländern. Aber dennoch würde ich mir ein offeneres Auge wünschen. Ein problematischer Aspekt von Armut ist das Abschotten, der Verlust sozialer Kontakte und die Scham. Ich bin froh, wenn es dann diejenigen ins Tachles schwappt und sie durch die Aktion und die Gäste ein wenig aufgefangen werden. Ein Kaffeehausbesuch kann ein wichtiger Schritt aus der gesellschaftlichen Isolation sein.

Trotzdem kritisieren manche, dass Bedürftige durch die Aktion in eine Rolle der Bittsteller gedrängt werden.

Das empfinde ich nicht so. Wir bieten auch oft selbst aktiv an, wenn wir merken, dass jemand einen kleinen Trost oder Unterstützung braucht. Uns ist wichtig zu den Menschen zu kommen, wenn diese sich nicht trauen zu uns zu kommen. Bei uns kann man fragen, muss das nicht laut und auch kein zweites Mal tun.

Ebenfalls befürchtet wird, dass die Aktion ausgenutzt werden könnte.

Wer immer fragt, bekommt auch. Ich glaube aber nicht, dass die Gefahr eines Missbrauchs besteht. Auch von der Lokalseite wollen wir das Vertrauen nicht missbrauchen: Wir schreiben genau auf, was gespendet wird. Das Geld wird auf die Seite gelegt und in einen eigenen Topf gegeben. Wir wollen vermeiden, mit der Aktion irgendwelche Gewinne als Lokal zu verbuchen. Es geht nicht um eine Werbeaktion, sondern darum, das "sospeso"-Prinzip zu etablieren und auch anderen Lokalen näherzubringen. Organisatorisch ist es einfach umzusetzen. Die Hauptsorge der Lokalbesitzer ist wahrscheinlich, dass die Klientel kippen könnte. Diese Angst hat sich bei uns nicht bewahrheitet. Außerdem: Nichts Unangenehmes im Leben wird dadurch gut, dass man es wegsperrt.

Zur Person: Daniel Landau ist AHS-Lehrer für Mathematik, Dirigent und Tachles-Mitbesitzer. Seit Jahren engagiert sich der Bruder von Caritas-Direktor Michael Landau außerdem in der Bildungspolitik, für Inklusion und gegen Armut.

"Armut ist nicht immer sichtbar"

Tachles
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Ein Vanille-Frappuccino, Espresso oder eine Melange – alles keine Außergewöhnlichkeit auf einer Café-Getränkekarte. Doch ein „suspended coffee“, also ein „ausgesetzter Kaffee“, könnte der neue Renner in Coffeeshops auf der ganzen Welt werden.

Bestellt und bezahlt werden zwei Getränke. Ein Kaffee wird selbst konsumiert, der andere ausgesetzt und jemandem spendiert, der sich selbst keinen leisten könnte. Vor allem Obdachlose sollen über diesen Weg die Möglichkeit bekommen, einen Kaffee ohne Entgelt zu konsumieren. Ein weniger privilegierter Mensch bekommt also die bereits bezahlte Melange - man selbst das Gefühl etwas richtig Gutes gemacht zu haben.

Die Idee stammt ursprünglich aus Italien, genauer gesagt aus Neapel. Dort ist es bereits seit Jahrzehnten üblich, rund um Weihnachten einen "caffè sospeso" an sozial Bedürftige auszugeben. Von Neapel aus verbreitete sich diese Tradition bis nach Bulgarien, wo bereits 150 Cafés diesen Modus eingeführt haben. Auch in London scheint der Trend zu fruchten, berichten englische Medien.

Allerdings merkt der Telegraph kritisch an, dass eine solche Aktion wohl in einer kleinen Stadt funktioniert, allerdings nicht in einer Millionen-Metropole. Schließlich lasse sich dort kaum kontrollieren, ob die Spende tatsächlich jemandem in Not zugute kommt. Und auch The Independent schreibt: Diese Aktion basiert auf guter Absicht und vor allem Vertrauen - beides lässt sich allerdings nicht garantieren.

Nach Österreich fand die Idee vor allem über Facebook. Die Legende von der guten Tat im Kaffeehaus wird seit Wochen fleißig geteilt und geliked. Tatsächlich eingeführt, hat die soziale Initiative bisher nur das Kulturcafé Tachles.

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