Wenn der Staat die Kinder abnimmt

Wenn der Staat die Kinder abnimmt
718 Kinder holte das Wiener Jugendamt alleine im Jahr 2015 aus ihren Familien.

Fragt man Julia Zeiler nach dem Tag, an dem für sie alles aus dem Ruder gelaufen ist, dann nennt sie den 26. August 2012. Jener Tag, an dem ihr Mann gestorben ist, der auch der Vater ihrer beiden Kinder Leonie und Fabian war. Er sei ihr unter ihren Fingern weggeglitten, der Alkoholiker. "Es war ein Herzinfarkt, ich war alleine mit ihm zuhause." Julia Zeiler (der Name wurde auf ihren Wunsch geändert) nennt es ein Glück, dass ihre Tochter Leonie gerade bei der Oma war, als es passierte. Und sie nennt es ein Glück, dass das ein Monat alte Baby Fabian an diesem Tag noch mit Entzugserscheinungen im Krankenhaus lag. "So haben die Kleinen den Tod ihres Vaters nicht mitbekommen." Wenig später werden die Kleinen aber auch ihre Mutter verlieren. Leonie und Fabian werden Julia Zeiler per Beschluss abgenommen.

Ernsthafte Gefahr

718 Kinder holte das Wiener Jugendamt im Jahr 2015 aus Familien. Das zeigt der aktuellste Bericht. Das waren mehr als in den Jahren zuvor. Hauptsächlich weil diese Kinder vernachlässigt wurden oder psychische und körperliche Gewalt erfahren mussten. Österreichweit waren es 4.515 Kinder, die aufgrund einer gerichtlichen Verfügung bei Pflegeeltern oder in sozialpädagogischen Einrichtungen untergebracht wurden. Dürfen oder können Kinder nicht mehr in ihrer Herkunftsfamilie leben, nennt das Gesetz die Übertragung der Verantwortung "Volle Erziehung." Solch ein Schritt wird gesetzt, wenn alle Unterstützung nicht ausreichend war und ernsthafte Gefahr besteht.

Wenn Julia Zeiler über ihren verstorbenen Mann spricht, betont sie immer wieder, dass wirklich einiges nicht gepasst hätte. Er sei nicht der beste Papa gewesen, aber sie musste in dieser Beziehung mit ihm funktionieren. "Bis zu einem gewissen Grad führte ich ein geregeltes Leben."

Ein geregeltes Leben. Mit Drogen. "Ich kann sagen, dass ich 15 Jahre lang ein Junkie war", erzählt sie heute. Sie sitzt im Café Walter am Reumannplatz in Favoriten. Die Spuren der jahrelangen Sucht sind nicht zu übersehen. Die Haut ist fahl, die Zähne schlecht, das Haar dünn. Julia Zeiler würde wohl jeder älter schätzen als 34. Sie wirkt nervös, zittrig. Ist eine Zigarette ausgedämpft, holt sie gleich wieder die nächste aus der Packung. Zu Beginn entschuldigt sie sich für ihr Auftreten, für ihr Verhalten. "Ich habe in der Therapie 30 Kilo zugenommen", sagt Julia Zeiler mit rauchiger Stimme, dennoch klingt sie irgendwie wie ein Mädchen. Sechs Monate ist es nun her, dass sie die Entzugsklinik in Ybbs verlassen hat. "Ich bin schnell nervös. Ich habe fast 20 Jahre lang Benzos genommen, die haben mich immer beruhigt."

Harmlos begonnen

Benzodiazepine wirken angstlösend, krampflösend, beruhigend. Sie fördern den Schlaf und entspannen die Muskeln. Was aber verloren geht, sind Empathie und Feingefühl. Als Jugendliche hätte es recht harmlos mit Marihuana begonnen. "Mit 20 bin ich total auf Koks reingekippt, da hab ich ausgesehen wie der Tod, spindeldürr." Zu dieser Zeit nahm sie auch schon regelmäßig Morphium und Benzodiazepine. Es folgt der erste Entzug. Baby Leonie kommt auf die Welt.

"Ich bin vor den Ärzten offen damit umgegangen, dass ich im Substitutionsprogramm bin. Habe aber verschwiegen, dass ich so viele Tabletten dazu nehme und zeitweise an der Nadel gehangen bin." Leonie kommt mit Entzugserscheinungen auf die Welt. Genauso wie einige Jahre später ihr jüngerer Bruder Fabian. Der erste Entzug hatte nicht geklappt.

Unter Beobachtung

Nach Leonies Geburt wird die junge Mutter von einer Sozialarbeiterin beobachtet und erfüllt deren Anweisungen: Psychologenbesuche, Harntests, Therapie. Doch als Julia Zeiler ihren Mann verliert, verliert sie ihr Regulativ. Das Jugendamt unterstützt zusätzlich mit dem Caritas-Programm "Familienhilfe plus". Eine Helferin kommt direkt nach Hause, betreut und unterstützt in der gewohnten Umgebung. "Ich bin damals aber in eine Depression verfallen, konnte den Alltag nicht mehr bewältigen, habe die Miete nicht mehr bezahlt." Dass man ihr Leonie tatsächlich wegnehmen könnte, daran hat Julia Zeiler nie geglaubt. Sie hätte zwar von Kindesabnahmen gehört, aber diesen Gedanken nie zugelassen. Bis zu dem Tag, als sie einen Anruf aus dem Krankenhaus bekommt. Im Rahmen einer Helferkonferenz sei entschieden worden, dass das Mädchen nicht mehr nach Hause darf.

Der letzte Schritt

Dunja Gharwal ist seit 1998 als Sozialarbeiterin tätig. Seit 2010 arbeitet sie am Jugendamt in Wien. Wie viele Kindesabnahmen sie schon gemacht hat oder begleitend dabei war, weiß sie gar nicht mehr. Sie betont aber, dass dies stets der letzte Schritt ihrer Arbeit sei. Wenn nun aber – wie im Fall von Julia Zeiler - nichts geholfen habe, dann müsse man schnell intervenieren. Zu groß sei die Gefahr für die Kinder.

Neues Zuhause

Nach einem kurzen Aufenthalt im Krisenzentrum, ist nun eine WG mit acht Kindern und zwei Betreuern Leonies neues Zuhause. Statt besser, wird für Julia Zeiler daraufhin aber alles schlimmer. Die ungeöffneten Rechnungen häufen sich, die Benzos werden wieder mehr. Auch Baby Fabian wird ihr abgenommen.

Julia Zeiler sitzt vor den Scherben ihres Lebens. Ihre Kinder darf sie ohne Aufsicht nicht mehr sehen. "Mein Bruder und meine Mutter haben sich wahnsinnig engagiert. Haben mit mir die Kinder geholt, bei uns übernachtet, damit ich Leonie und Fabian ab und zu sehen kann."

Julia Zeiler meldet sich im Jahr 2016 in der Klinik Ybbs für einen weiteren Entzug an. Eine dreimonatige durchgehende Intensivbehandlung. Ein kontrollierter Entzug, der bis heute erfolgreich scheint. Leonie und Fabian wohnen nun beide in der gleichen Wohngemeinschaft. "Seither geht es beiden besser, weil sie das zusammen durchstehen können." Julia Zeiler darf ihre Kinder mittlerweile für zwei Nächtigungen im Monat ohne Aufsicht abholen. "Meinen Kindern geht es gut, denke ich", sagt Julia Zeiler und holt eine zweite Packung Zigaretten hervor. "Ich will die beiden so schnell wie möglich wieder bei mir haben."

Leonie besucht nun regelmäßig eine Psychologin. "Fabian geht in keine Therapie, aber vielleicht wird das später nötig sein. Aktuell erhält er eine logopädische Behandlung", erzählt Julia Zeiler während sie die Fotos ihrer Kinder anstarrt.

Heute sei ihr klar, dass das Jugendamt richtig gehandelt hat. "Ich hatte viele Chancen. Für die Kinder war es sicher das Beste."

Vernachlässigung, psychische und körperliche Gewalt und sexueller Missbrauch. Das sind die Gründe für Kindesabnahmen. "In Wien ist die Vernachlässigung mit Abstand der häufigste Auslöser", sagt Dunja Gharwal, die seit 2010 für das Wiener Jugendamt tätig ist. Ihre Kollegin Jana Baumgartner nickt. Gharwal und Baumgartner haben Dinge gesehen, die sich die meisten Menschen nicht einmal vorstellen wollen. Manchmal müssen sie innerhalb von Sekunden entscheiden, was besser für ein Kind ist: bei der Familie zu bleiben oder rasch in Obsorge genommen zu werden. "Vor allem, wenn wir die Familie noch nicht kennen, ist das eine der schwierigsten Situationen", sagt Baumgartner. Aber auch eine der seltensten. Denn solche Akutsituationen seien nicht die Norm.

Spontan und geplant

Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Kindesabnahmen. Jene, die spontan entschieden werden müssen, und die geplanten, die detailliert vorbereitet werden. Am häufigsten bereiten Gharwal und Baumgartner alles akribisch vor. "Nichts wird dem Zufall überlassen", sagt Baumgartner. Das Krisenzentrum bereitet sich schon im Vorfeld auf den individuellen Alltag des ankommenden Kindes vor: Fahrtendienste, Therapien, Medikamente, sonstige Bedürfnisse. Wenn die Sozialarbeiterinnen Kinder aus ihren Familien holen, dann machen sie das immer zu zweit. Ist es ein besonders heikler Fall, dann wird die Polizei als Assistenz mitgenommen. Sind mehrere Kinder involviert, steht für jedes eine eigene Kollegin zur Verfügung. Geschwisterkinder werden – wenn möglich – nicht getrennt untergebracht. "Wir versuchen, für die Abnahmen jene Orte zu meiden, die die Kinder regelmäßig besuchen", sagt Baumgartner. Im Idealfall finden sie in den Regionalstellen des Jugendamtes statt. Manchmal in einem Park, auf einem Spielplatz, im Spital. Wenn es nicht anders geht, in der Schule oder im Kindergarten.

Ziel ist die Rückführung

Man könne es drehen und wenden wie man wolle, eine Abnahme sei nicht Schönes und immer eine Belastung für das Kind, egal wie vorsichtig man diese gestalte, sagt Baumgartner. Die Abnahme ist der letzte Schritt einer Reihe von unterschiedlichen Maßnahmen, die der Familie helfen sollen, die vorhandenen Probleme zu bewältigen. "Das Ziel ist aber immer die Rückführung des Kindes in die eigene Familie. "

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