"Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“

Nicholas Winton bewahrte 669 Kinder vor dem Holocaust. Die Geschichte eines stillen Helden.

Er schwieg 50 Jahre lang, sagte weder seiner Frau noch seinen Freunden, dass er 669 Kinder aus der damaligen Tschechoslowakei vor dem Holocaust gerettet hat. Am Mittwoch starb Sir Nicholas Winton im Alter von 106 Jahren.

"Urlaub" in Prag

Nicholas Winton kommt am 19. Mai 1909 in London zur Welt, es ist ein Dienstag. Seine Eltern, vom Judentum zum Christentum konvertiert, sind Deutsche, die zwei Jahre zuvor nach England ausgewandert sind. Wintons Lebenslauf ist nicht außergewöhnlich, er würde unter vielen gar nicht auffallen. Er schließt eine Banklehre ab, arbeitet kurz darauf in Hamburg und Paris, und beginnt nach seiner Rückkehr nach London einen Job als Börsenmakler. Zu Weihnachten 1938 will der junge Brite einen Skiurlaub in der Schweiz machen, entscheidet sich aber anders und reist auf Einladung von Freunden nach Prag, wissend, dass Nazi-Deutschland vor der Haupstadt Stellung bezogen hat. Adolf Hitler ist wenige Monate zuvor im Sudetenland einmarschiert, die Annexion der restlichen Tschechoslowakei ist der nächste Schritt des Diktators und nur noch eine Frage der Zeit.

"Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“
epa03897228 A handout photograph made available by Raw in War in 05 October 2013 showing 16 year old human rights defender Pakistani Malala Yousafzai (R) receiving the Anna Politkovskaya Award 2013 from 104 year old Sir Nicholas Winton (L), known as the 'British Schindler' for organizing the rescue of 669 Jewish children from Nazi occupied Czechoslovakia in 1939, at the Southbank Centre, Purcell Room at Queen Elizabeth Hall in central London, England, 04 October 2013. Malala Yousafzai was shot by the Taliban in Pakistan in 2012 on her way home from school. She was then flown to Britain for treatment and currently lives in Birmingham, where she continues to campaign for education for girls and boys.The award is named after murdered Russian journalist, Anna Politkovskaya. EPA/JENNY MATTHEWS / RAW IN WAR / HA HANDOUT EDITORIAL USE ONLY/NO SALES

Bild: Kinderrechtsaktivistin und Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai mit Nicholas Winton

Es sei nicht gefährlich, versichert Martin Blake, ein Freund von Winton und Mitarbeiter einer britischen Organisation, die sich um Flüchtlinge aus der Tschechoslowakei kümmert. Er könne auch seine Ski mitnehmen, wenn er möchte. Als der 29-jährige Winton in Prag ankommt, sieht er Menschen, die vor den Nationalsozialisten aus dem Sudetenland fliehen mussten und nun unter fürchterlichen Zuständen versuchen zu überleben. Winton legt Hand an und hilft seinen Freunden, die Flüchtlinge, hauptsächlich Juden, zu versorgen.

Refugee Children's Movement

Als die Gewaltmaßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung 1938 zunehmen, Geschäfte zerstört, Synagogen niedergebrannt und Privathäuser verwüstet werden, ist der Beginn des Zweiten Weltkriegs nur noch wenige Monate entfernt. Die Flucht aus ihren Heimatländern ist für viele Menschen der einzige Ausweg, um dem auf sie wartenden Tod zu entkommen. Speziell für Kinder ohne Eltern ist es aber schier unmöglich, alleine zu reisen. Angesicht der humanitären Lage in Europa entscheidet die Regierung in London kurz nach den Novemberpogromen in Deutschland und Österreich und noch vor dem Eintreffen Wintons in Prag, das Programm "Kindertransport" zu starten. Die Einreisebestimmungen nach England werden gelockert und britische Familien werden aufgerufen, Pflegekinder im Alter bis zu 17 Jahren vorübergehend aufzunehmen. 10.000 jüdische Kinder werden durch die sogenannte Organisation Refugee Children‘s Movement gerettet, bevor der Zweite Weltkrieg im September 1939 beginnt. Oft sind sie die einzigen aus ihren Familien, die überleben.

Bild: Die Kindertransport-Skulptur am Liverpool Street Bahnhof in London.

Winton, noch immer erschüttert vom Andrang der jüdischen Bevölkerung nach Prag, verfolgt vom Nazi-Regime, bemerkt nach einiger Zeit, dass seine Freunde hauptsächlich den Älteren halfen, Pläne zur Rettung von Kindern gab es in der Tschechoslowakei nicht. Umgehend kontaktiert er die Organisation Refugee Children‘s Movement und richtet sich ein Büro in einem Hotel am Wenzelsplatz in Prag ein. Als sich erste Gerüchte vom "Engländer am Wenzelsplatz" unter der Bevölkerung breit machen, suchen verzweifelte Eltern Winton auf, um ihn zu überreden, ihre Kinder auf die Liste zu setzen, bevor Hitlers Armee weiter vorrückt. „Es war zum Verzweifeln“, wird der Brite Jahre später in mehreren Interviews erzählen, "jede Familie sagte, ihr Kind muss gerettet werden."

Schmiergeld und gefälschte Dokumente

900 Kinder werden registriert, Kontaktdaten hat Winton aber von mehreren Tausend. Was folgt sind Papierkram, Bestechungsgelder, gefälschte Dokumente und geheime Kontakte mit der Gestapo. Nachdem Nazi-Agenten erstmals vom Engländer hören und Verdacht schöpfen, wird Winton verfolgt und beschattet. Seine Erfahrung als Banker und sein Geschick mit Geld kommen dem Briten gelegen. Nicht allzu wenig fließt in die Hosentaschen der Nationalsozialisten.

Bild: Thomas Bergmann, ein Überlebender aus der Tschechoslowakei, mit seinem damaligen Namenskärtchen.

Winton kehrt Anfang 1939 nach London zurück. Es ist ihm gelungen, alles zu organisieren, was nötig war, um einen tschechischen Kindertransport auf die Beine zu stellen. Doch die Arbeit in England wartet noch. Winton wirbt mithilfe seiner Mutter und Freiwilligen unermüdlich für die humanitäre Aktion in der Tschechoslowakei. Der Aufwand ist enorm und die Zeit knapp. Hitler könnte jederzeit den Befehl zum Angriff geben. In London überzeugt Winton die Regierung, alle Kinder einreisen zu lassen. Die Refugee Children’s Movement-Regelung kommt ihm recht: 50 Pfund (heute 1.500 Euro) für jedes Kind als Kaution, damit sollen Ausbildung in England und ein mögliches Rückfahrtticket in das Heimatland gedeckt werden.

Winton geht auf die Straße, zu Wohltätigkeitsorganisationen und Behörden. Er sammelt das Geld für Kautionen, Visa und Transport - nicht genug um alle Kosten zu begleichen, Winton zahlt die Differenz. 50 Pfund pro Flüchtling sind nicht alles. Um einreisen zu dürfen, muss sich eine britische Pflegefamilie bereit erklären, ein Kind aus der Tschechoslowakei aufzunehmen. Der Brite und sein Team finden sie, für jedes Kind eine neue Familie.

Der erste Zug verlässt Prag

Während sich Winton um die letzten Formalitäten kümmert, wird in Prag der lokale Gestapo-Chef, Karl Bömelburg, mithilfe von Schmiergeld überzeugt, alle Züge der Winston Organisation durchzulassen. Auch in den Niederlanden werden sie nicht aufgegriffen, obwohl das Land seine Grenzen nach den Novemberpogromen für jüdische Flüchtlinge geschlossen hatte.

Bild: Nicholas Winton mit einem Kind, das dem Nazi-Grauen entfliehen konnte.

Der erste Zug Richtung London verlässt den Wilson Bahnhof in Prag - benannt nach dem US-amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson - am 14. März 1939, einen Tag später überqueren deutsche Truppen die Grenze und marschieren um neun Uhr in die Hauptstadt ein. Am 16. März verkündet Hitler, die Tschechoslowakei hat aufgehört zu bestehen. In den kommenden Monaten erreichen weitere sieben Züge England. Winton steht jedes Mal am Liverpool Street Bahnhof und wartet auf die verängstigten und traumatisierten Kinder, die mit Namenskärtchen ausgestattet sind, um von den Pflegeeltern erkannt zu werden.

"Er ist einfach verschwunden"

Der neunte Zug, der zahlenmäßig größte Transport, soll Prag am 1. September 1939 verlassen, jener Tag, an dem Deutschland in Polen einmarschiert und der Zweite Weltkrieg beginnt. Der Zug kommt nie in London an. "Der Zug ist einfach verschwunden", erklärt Winton später. "Keines der 250 Kinder wurde jemals wieder gesehen. 250 Pflegefamilien warteten bereits in London. Wenn der Zug Prag nur einen Tag früher verlassen hätte, wäre er auch angekommen. Was für ein schreckliches Gefühl."

Bild: Queen Elizabeth II und Sir Nicholas Winton

50 Jahre später. Grete Winton, die Frau des mittlerweile 78-jährigen Briten, geht 1988 auf den Dachboden des Hauses und findet ein verstaubtes Sammelalbum, in dem der Transport von 669 hauptsächlich jüdischen Kindern aus der Tschechoslowakei detailliert dokumentiert wird. Ihr Ehemann hat ihr nie von der Befreiung erzählt, er hat keinem davon erzählt. Grete Winton gibt die Fotos der Kinder und die an die leiblichen Eltern adressierten Briefe der Holocaust-Forscherin Elisabeth Maxwell, die die Ehefrau des britischen Verlegers Robert Maxwell ist. Der in der Tschechoslowakei geborene Zeitungsmacher bekommt Wind von der Sache und veröffentlicht die Geschichte Anfang 1988.

Ehrungen

Wenige Tage später sitzt Nicholas Winton in der BBC1-Fernsehshow That’s Life im Publikum und beobachtet, wie That’s Life-Moderatorin Esther Rantzen vor laufender Kamera ein altes Sammelalbum durchblättert. Rantzen findet eine Namensliste, liest den Namen von Vera Gissing vor und enthüllt, dass sich die Frau im Studio befindet. Winton ist überrascht. Was der 78-Jährige nicht weiß, links neben ihm sitzt Gissing, die 1939 in einem der Winton-Züge saß und so den Nazis entkam.

/John Stillwell
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/John Stillwell
HONOURS WINTON
UK OUT, NO MAGS SALES ARCHIVES INTERNETHON07 - 20021230 - LONDON, UNITED KINGDOM : File dated 25/9/02 of Nicholas Winton gets a kiss on the cheek from Vera Gissingaged, who when she was 11 years old was helped by Mr Winton to escape Prague before the second World War. Winton became a Knights Batchelor in the New Year's Honours List published Tuesday December 31 2002. EPA PHOTO PA/JOHN STILLWELL

Bild: Winton und Vera Gissing, die als 11-jähriges Mädchen mit einem Winton-Zug in London ankam.

Damit beginnt für Winton ein Kapitel in seinem Leben, in dem er mit Ehrungen überhäuft wird: drei Nominierungen für den Friedensnobelpreis, ein Ritterschlag von Queen Elisabeth II im Jahr 2003, eine Statue am Prager Hauptbahnhof, eine Grundschule Kunzak (Tschechien) und ein kleiner Planet, entdeckt von zwei tschechischen Wissenschaftlern, werden nach ihm benannt. Im Mai 2014 erhält der mittlerweile 105 Jahre alte Winton den Orden des weißen Löwen, die höchste Auszeichnung Tschechiens, weil er den Kindern das größtmögliche Geschenk machte: "die Chance zu leben und frei zu sein."

Der "britische Schindler"

Winton wurde immer wieder in einem Atemzug mit dem deutschen Industriellen Oskar Schindler, der 1.200 Juden in seinen Fabriken einstellte und so vor den Nazis schützte, und dem schwedischen Geschäftsmann Raoul Wallenberg, der mit schwedischen Schutzpässen und gemieteten Gebäuden Zehntausenden ungarischen Juden das Leben rettete, genannt. Doch diese Vergleiche missfielen den zurückhaltenden Helden. Er sei nur "zur richtigen Zeit am richtigen Ort" gewesen, sagte Winton in einem seiner letzten Interviews.

Am 1. Juli 2015 starb der „britische Schindler“, es war ein Mittwoch. Er hinterlässt der Welt die „Winton’s children“, 669 gerettete Kinder aus der Tschechoslowakei.

"Ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort“
Survivors and descendants of 669 so-called "Winton's children" sit in a coach of the Winton train in Prague September 1, 2009. The historical train departed from Prague on Tuesday to re-trace the original route from Prague to London with several survivors and descendants of 669 so-called "Winton's children" on board. The "Winton's children" were rescued by Sir Nicholas Winton in 1939 from being sent to their deaths in Nazi concentration camps. REUTERS/David W Cerny (CZECH REPUBLIC SOCIETY POLITICS)

Bild: 2009 fanden sich "Winton's Children" zum 70. Jahrestag in Prag ein. Von dort fuhren sie mit einem "Winton's Train" nach London.

Die Biografie "Nicholas Winton and the rescued Generation" von Muriel Emmanuel und Vera Gissing wurde 2001 veröffentlicht.

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