Südkorea: Vorwärts im rasenden Takt

Trommelwirbel vor den Aufnahmsprüfungen für die Uni: Südkoreanische Schülerinnen feuern ihre Kollegen an, die jahrelang für diesen Tag, der über ihr Berufsleben entscheidet, gelernt haben.
Jeden Tag 12 Stunden Unterricht, extremer Druck – für viele Schüler ganz normal.

Punkt 22 Uhr füllen sich plötzlich die regennassen Straßen in Seouls Daechi-dong-Viertel. Massenhaft strömen Kinder und Jugendliche, die meisten noch immer in ihren dunkelblauen Schuluniformen, aus den unzähligen privaten Lerninstituten. Zwölfjährige schleppen schwer an ihren Schultaschen. Die Größeren peilen die nach frisch Gekochtem duftenden Snackbuden an. Da wird gedrängelt und geschubst, gekichert und sofort das Smartphone gezückt, als wäre es nicht mitten in der Nacht, sondern die große Pause eines gewöhnlichen Schultags.

Für südkoreanische Schüler aber ist es nicht außergewöhnlich, Abend für Abend bis zehn Uhr in einem sogenannten Hagwon zu sitzen. In privaten Nachmittagsschulen, wo Kinder und Jugendliche mit intensivstem Lernen ihre schulischen Schwächen ausmerzen sollen. 30.000 von diesen Hagwons soll es allein in der Hauptstadt Seoul geben. Seit zwei Jahren gilt das neue Gesetz: Die Nachmittagsinstitute müssen um 22 Uhr das Licht abdrehen – damit nicht noch länger gepaukt werden kann.

"Es ist schon hart", erzählt Sei-yong, während sie ungeduldig von einem Fuß auf den anderen steigt. Ihre Mutter, die sie wie jeden Abend mit dem Auto abholen soll, ist noch immer nicht da. Dabei hat die 16-Jährige noch eine fast einstündige Autofahrt durch den Großstadtmoloch Seoul vor sich, bis sie endlich daheim ist.

Keine Zeit für Partys

Und dann sind da auch noch die Hausaufgaben zu erledigen. Vor Mitternacht, sagt die zarte Schülerin, komme sie wochentags nie ins Bett. "Mein normaler Schulunterricht beginnt um acht Uhr früh. Danach gehe ich kurz nach Hause und ein bisschen später muss ich dann zum Nachmittagsunterricht."

Tag für Tag lernen, lernen, lernen. Wann bleibt da Zeit zum Erholen, zum Faulenzen oder für die erste Liebe? Sei-yong lächelt verlegen. "Nie, oder naja, vielleicht am Wochenende?"

"Alle Kinder in Südkorea lernen jahrelang auf einen ganz bestimmten Tag hin", sagt die junge Lehrerin Kyung-won Na: Für den Tag der Aufnahmeprüfungen an die Unis. Und nur wer den Sprung an die allerbesten Universitäten des Landes schafft, kann später auch mit den besten Jobs rechnen.

Der Druck, der dabei auf Kindern und Jugendlichen lastet, ist enorm. "Ich habe so viel gelernt, weil meine Eltern es wollten", erinnert sich Kyung-won. "Rebelliert? Nein, rebelliert habe ich nie. Für uns Südkoreaner ist dieses System ja ganz normal. Alle machen es so, unsere Gesellschaft ist eben sehr streng."

Tatsächlich zählen Südkoreas Kinder mit ihrem extremen Lernpensum von oft mehr als 12 Stunden täglich zu den schlauesten der Welt. Bei den weltweiten PISA-Tests belegen sie regelmäßig Spitzenränge.

Viele zählen aber auch zu den Unglücklichsten. In keinem anderen Industriestaat der Welt ist die Selbstmordrate unter Jugendlichen höher als im ostasiatischen Tigerstaat. Im vergangenen Jahrzehnt stieg die Suizidrate unter den Zehn- bis 19-Jährigen sogar fast um 60 Prozent. Scheitern oder einfach einmal nur faul sein – in Südkoreas strengem und ultra-wettbewerbsorientiertem Bildungssystem ist das nicht drinnen.

In der extrem auf Leistung gepolten Gesellschaft Südkoreas dürfte sich am massiven Druck auf die Kinder des Landes so bald nichts ändern. Nur mit der "Ressource Mensch", so ist in Seoul allenthalben zu hören, habe man binnen weniger Jahrzehnte den Sprung aus der Armut zu einem Hochtechnologiestaat geschafft.

Aufholjagd

Nach dem Koreakrieg, 1953, lag das Land in Schutt und Asche. Es verfügte über kaum Rohstoffe und war überdies in einen kommunistischen Norden und einen militärisch, und von den USA dominierten Süden geteilt. Dank eiserner Disziplin, harter Arbeit und bester Schul- und Arbeitsausbildung aber legte Südkorea eine atemberaubende wirtschaftliche Aufholjagd hin.

In den 70er-Jahren lag Südkorea bereits auf dem gleichen ökonomischen Niveau wie Peru und hatte die Philippinen überholt. Heute ist Südkorea die 14. größte Volkswirtschaft der Welt. Seine riesigen Industriekonglomerate (Samsung, Hyundai, Daewoo, LG etc.) zählen zu den größten und wettbewerbsfähigsten der Erde. Seine ultramoderne Infrastruktur, Hochgeschwindigkeitszüge, Magnetschwebebahnen und Hochhausschluchten lassen schon an das 22. Jahrhundert denken.

Venen-Scan

"Unfassbar, was man in Südkorea für eine ausgefeilte Technik hat", staunt auch Hannah Prantl noch immer. Die 23-Jährige studierte ein halbes Jahr "business administration" in Seoul. Für den Zugang zu ihrem Zimmer im Studentenheim etwa hatte sie nicht nur einfach einen Code einzutippen. "Danach muss ich auch noch einen Venen-Scan machen, das ist offenbar noch sicherer als ein Fingerabdruck."

Das enorme Lernpensum ihrer südkoreanischen Studienkollegen habe sie schier überwältigt, schildert die junge Deutsche dem KURIER. "Kurz vor den Prüfungen haben viele von ihnen 24 Stunden durchgelernt. Einige haben überhaupt gleich in der Bibliothek übernachtet."

Der große Unterschied zu den Bildungskonzepten im Westen aber sei: "Studenten sagen nichts Kritisches, Professoren werden nicht in Frage gestellt. Und dass einmal etwas diskutiert wird, das gibt es praktisch nicht." Drill und auswendig lernen, sagt Prantl, das ändere sich nur mit Professoren, die im Ausland studiert oder unterrichtet hätten.

Um das "Bildungsfieber" hoch zu halten, muss auch gebetet werden. Jahr für Jahr pilgern Zigtausende koreanische Elten und Großeltern zu den großen Tempelanlagen von Donghwa. In den großzügigen Parkanlagen nahe der Stadt Daegu ist kurz vor den Uni-Aufnahmeprüfungen kaum ein freies Fleckchen Erde zu sehen.

Jung-youn hat das alles noch vor sich. Der 17-jährige, spindeldürre Schüler habe Probleme mit Mathematik, erzählt er in bestem Englisch. Seine Eltern müssen für den teuren Privatunterricht tief in die Tasche greifen. Bis zu einem Viertel eines durchschnittlichen Haushaltseinkommens kann der schulische Nachmittagsdrill kosten. Drei Mal die Woche absolviert Jung-youn in Seouls Daechi-dong-Viertel seinen bis in die Nacht dauernden Förderunterricht. "Muss halt sein", brummt er ein wenig missmutig und steigt in die U-Bahn. Während seine Mitschüler drauflos schwatzen, wirft sich Jung-youn auf einen der letzten freien Plätze. Nach zwei Stationen ist er eingeschlafen.

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