Caracas steht vor dem Blackout

Caracas: Anstellen für Klopapier oder Brot, Medikamente gibt es kaum noch
Strom und Wasser sind rationiert, Beamte arbeiten nur noch zwei Tage, die Bevölkerung ist aggressiv.

Es ist Krise, überall. Direkt vor meinem Haus stehen die Leute Schlange. Den gesamten Häuserblock entlang, hinab bis zur Hauptstraße, dort ums Eck bis zur Farmacia, einer Mischung aus Apotheke und Drogeriemarkt. Was es dort heute zu kaufen gibt? Klopapier. Vier Rollen pro Person.

Während ich vom Supermarkt nach Hause gehe, komme ich an einer Bäckerei vorbei. Unzählige Menschen drängen sich hinein. Das gewöhnliche Weißbrot, das die Venezolaner so gerne essen, seit das Maismehl für die typischen Arepas knapp ist, gilt seit einigen Wochen als Mangelware. Den Bäckern fehlt es an Mehl, um das Brot herzustellen. Heute habe ich Glück und ergattere zwei Stück. Ein sonderbarer Stolz macht sich in mir breit. Auf dem Heimweg fragen mich Passanten, wo ich das Brot denn gekauft hätte. Es ist, als wäre es etwas ganz Außergewöhnliches.

40 Euro, ein Vermögen

In Caracas zu leben, bedeutet: große und kleine Krisen, jeden Tag und allgegenwärtig. Die Statistiken der vergangenen Jahre geben dem subjektiven Krisengefühl recht. 2015 war Venezuela das Land mit der weltweit höchsten Inflation. Kürzlich gab mir jemand einen Scheck über 40.000 Bolivares – das ist in Venezuela, wo der Mindestlohn derzeit etwa 12.000 Bolivares beträgt, ein kleines Vermögen. Auf dem florierenden Schwarzmarkt ist dieser Betrag allerdings nicht einmal 40 Euro wert und selbst nach offiziellem Wechselkurs bekäme man nur 160 Euro dafür. Doch in einem Land, in dem die größte Banknote den Wert 100 trägt, füllen 40.000 Bolivares eine ganze Tasche. Darum fühlt man sich unsicher, wenn man die zwei Häuserblocks von der Bank bis nach Hause zu Fuß geht.

Caracas steht vor dem Blackout
Francisca Landaeta (R) poses for a picture next to her relatives, (L-R) Luisa Gomez, Gabriel Castillo, Kerlin Garrido and Antony Arias, at their home in Caracas, Venezuela April 14, 2016. "We eat today, but we do not know what we will eat tomorrow. We are bad, I never thought it would come to this," Landaeta said. REUTERS/Carlos Garcia Rawlins
Das verwundert wenig, schließlich ist Caracas auch die Stadt mit der weltweit höchsten Mordrate. Zwar findet ein Großteil aller Tötungsdelikte in den ärmeren Stadtvierteln statt, doch kann schon ein Smartphone Anlass genug sein, auf öffentlicher Straße erschossen zu werden. Solche Verbrechen werden kaum geahndet und die Justiz lässt 98 Prozent aller Delikte ungestraft. Das veranlasst viele Venezolaner, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Seit einigen Monaten erlebt die Lynchjustiz, das kollektive Morden, einen ungekannten Aufschwung und hält selbst in gut situierten Stadtvierteln Einzug. Hat jemand aus der Nachbarschaft einen vermeintlichen Dieb ausgemacht, prügelt die Masse so lange auf ihn ein, bis er reglos auf der Straße liegt. Viele Venezolaner wollen nicht mehr dabei zusehen, wie die verantwortlichen Behörden untätig blieben. Die Dramatik an der Sache: 60 Prozent der Bevölkerung befürworten diese Art der Rechtsprechung.

Regierungslügen

In Venezuela ist Krise, nicht mehr nur in den armen Vierteln, sondern überall. Die Krise dringt immer tiefer in das Leben jedes Einzelnen vor. Viele Lebensmittel und Hygieneartikel fehlen in den Supermärkten, ganze Regale stehen leer, Medikamente sind nur schwer oder gar nicht mehr zu finden. Die Regierung spricht von einem Wirtschaftskrieg, den Unternehmer und die Opposition gegen die bolivarische Revolution führten – auf die sich auch die Venezuelaner beziehen. Die venezolanische Bevölkerung glaubt dem aber nicht mehr. Darum hat sie der sozialistischen Regierung bei den Parlamentswahlen im vergangenen Dezember auch eine Abfuhr erteilt. Doch trotz aller Bemühungen der Opposition, Präsident Nicolás Maduro aus dem Amt zu jagen, sitzt dieser mithilfe seiner Kameraden fest im Sattel. Doch jetzt, wo sich all die Krisen häufen und immer weiter in das Privatleben jedes einzelnen Venezolaners vordringen, könnten auch seine Tage gezählt sein.

Seit einigen Wochen ist das dominierende Thema in Caracas' Straßen El Niño, das Kind. Dabei handelt es sich um ein Wetterphänomen, das derzeit am gesamten Kontinent sein Unwesen treibt. In Venezuela macht es sich durch ausbleibenden Niederschlag und starke Dürre bemerkbar. Seit Wochen hat es im Land nicht mehr wirklich geregnet.

Darum müssen die Venezolaner Wasser sparen. Die größten und wichtigsten Stauseen haben zu tiefe Wasserstände oder sind vom Austrocknen bedroht. Da ist zum Beispiel El Guri, von wo aus 60 Prozent des landesweiten Strombedarfs gedeckt werden sollten. Der Wasserpegel liegt so tief, dass die Turbinen zur Stromerzeugung womöglich schon in zwei Wochen abgeschaltet werden müssen. Dem Land droht das totale Black-Out.

Stromkollaps

Um dem angekündigten Stromkollaps entgegenzuwirken, erlässt die Regierung immer strengere Verordnungen. Angefangen hat alles mit den Einkaufszentren, die ab Februar während der Woche vier Stunden lang ihren Strombedarf selbst decken mussten. Doch es fehlt an Stromgeneratoren, darum blieben die Geschäfte über Mittag einfach zu. Danach hielten Wasserrationierungen Einzug in die venezolanischen Haushalte. Zwischen zwei und vier Tage die Woche sollten die Bewohner von Caracas auf dem Trockenen sitzen. Auch bei mir in der Wohnung kam kein Tropfen mehr aus den Leitungen. Zuerst waren es zwei Tage Wasserrationierung. Dann plötzlich drei und am Schluss gab es überhaupt nur noch zweimal täglich für eine halbe Stunde fließendes Wasser. Absurd wirkt da die Kampagne der Regierung, die die Bevölkerung darüber aufklären will, wie man Wasser sparen kann.

Die Stunde Null, an der die Lichter im Land komplett ausgehen, rückt bedrohlich nahe. Erst kürzlich hat Venezuelas Präsident Staatsbediensteten darum den Freitag frei gegeben und eine 4-Tages-Woche angeordnet. Doch das reicht offenbar nicht, um genügend Strom zu einsparen. Darum werden am 1. Mai die Uhren um eine halbe Stunde vorgestellt, um das Tageslicht besser nutzen zu können. Außerdem haben öffentlich Angestellte ab sofort nur noch an zwei Tagen die Woche zu arbeiten. Zeitgleich kommt es zu vierstündigen Stromrationierungen in den venezolanischen Haushalten. Das ist im Angesicht all der Krisen gefährlich. Schon jetzt stehen Plünderungen und Morde an der Tagesordnung. Kriminelle kommen ohne Konsequenzen davon. Die Bevölkerung ist angespannt, aggressiv, will nicht noch mehr Krisen meistern müssen. Proteste sind vorprogrammiert. Geht in Venezuela das Licht ganz aus, bedeutet das für die regierende Elite womöglich den politischen Genickbruch.

(Hanna Silbermayr, aus Caracas)

Kommentare