Kartelle, Koks und Krisenherde

Soldiers stand in formation as a pile of marijuana and other drugs are incinerated at the 7th Military Zone on the outskirts of Monterrey June 22, 2012. More than two tonnes of narcotics, including marijuana, heroin, cocaine and pills, were incinerated as part of the Nuevo Leon-Tamaulipas anti-drug operation, according to local media. REUTERS/Daniel Becerril (MEXICO - Tags: DRUGS SOCIETY MILITARY POLITICS)
Sechs Jahre führte Mexiko Krieg gegen seine Drogenkartelle - die Bilanz ist ernüchternd.

Von Tijuana bis Cancún - Mexiko ist nicht nur in offizielle Verwaltungsbezirke aufgeteilt, sondern auch in Einflussgebiete der großen Drogen-Kartelle. Wer zur falschen Zeit am falschen Ort ist, der läuft Gefahr sein Leben zu verlieren. Von Bauchstichen bis zur Massen-Enthauptung, die vergangenen Jahre brachten für zehntausende Menschen vor allem eins: den Tod.

Als 2006 Felipe Calderon zum neuen Präsidenten gewählt wurde, sollte den Machenschaften der Kartelle Einhalt geboten werden. Calderon erklärte im wahrsten Sinne des Wortes Krieg und fast 50.000 Soldaten dafür abkommandiert: Ein in der Geschichte einmaliges Experiment.

Knapp sechs Jahre später liest sich die Bilanz ernüchternd: Inoffiziellen Schätzungen zufolge kamen mehr als 100.000 Menschen in direktem Zusammenhang mit dem Konflikt ums Leben (offizielle Quellen sprechen "nur" von etwa 60.000 Toten), einige wenige Kartelle wurden zerschlagen, dafür aber durch neue, teils noch skrupellosere ersetzt und der Straßenpreis für die aus Mexiko exportierten Drogen hat sich sehr wenig bis gar nicht verändert.

Kurswechsel

Kartelle, Koks und Krisenherde
Calderons NachfolgerEnrique Peña Nieto hat dem von Gewalt gebeutelten Land eine radikale Kursänderung verordnet. Nicht etwa der direkte Angriff auf die Kartelle, sondern die Konzentration auf Störung und Verhinderung des Drogentransports sollen im Vordergrund stehen.

Am Ende seiner sechsjährigen Amtszeit soll die Mordrate des Landes um 50 Prozent gefallen sein, versprach Nieto. Ein ambitioniertes Ziel, zumal für den Jänner dieses Jahres bereits über 100 Tote zu beklagen sind und die mexikanische Polizei fieberhaft nach jenen Männern sucht, die Anfang Februar spanische Touristinnen überfallen und vergewaltigt haben.

Kugel oder Knete

Die unterschiedliche Anti-Kartell-Politik der beiden Landesväter spiegelt sich auch in den möglichen Ansätzen der Kartell-Politik wider. So setzt etwa das Sinaloa-Kartell - es kontrolliert weite Teile der Pazifikküste - traditionell eher auf Bestechung oder Bezahlung um die eigenen Interessen durchzusetzen, während die an der Ostküste dominanten Los Zetas primär auf Gewalt, Mord oder Einschüchterung bauen.

Erklärung hierfür liefern die konträren Entwicklungen der beiden Organisationen: Während das Sinaloa-Kartell vor allem über Familienbande historisch gewachsen ist, wurden die Zetas von einer Gruppe abtrünnigen Spezialeinheit des Militärs gegründet. Auch der Aufstieg innerhalb des Kartells funktioniert im "Osten" nach "Leistung", während andernorts vor allem die Familienzugehörigkeit eine Rolle spielt.

Business

Wer mit Geldbeträgen von mehreren hundert Millionen Dollar jongliert, wird bei der Wahl seiner Mitarbeiter darauf achten, Spezialisten zu rekrutieren. Da in diesem Fall der Kartelle keine einfache Aufgabe, wodurch vor allem Techniker und medizinisches Personal oft gegen ihren Willen (und mit vorgehaltener Waffe) zur Arbeit "angehalten" werden. Hilfe von der vielerorts korrupten Polizei haben sie meist nicht zu erwarten (2010 wurden etwa zehn Prozent aller Polizei-Beamte, da sie bei einem Identitätscheck durchgefallen waren).

Kartelle, Koks und Krisenherde
A gold-plated Colt Super 38 Automatic is shown during a media presentation in Guadalajara October 13, 2010. The army showed drugs, tactical police equipment and weapons seized during a raid on a farm after an anonymous citizen report. REUTERS/Alejandro Acosta (REUTERS - Tags: CRIME LAW)

Die 20 bis 30 Milliarden US-Dollar die dadurch jährlich in die Taschen der Kartelle fließen, machen indes bis zu vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Insgesamt dürften knapp eine halbe Million Menschen direkt im Drogen-Geschäft arbeiten. Wie viele Menschen tatsächlich direkt oder indirekt für die Kartelle arbeiten, wagt niemand zu schätzen.

Warum trotz oder gerade wegen des "großen Geldes" die Gewalt in Mexiko geblieben und nicht auf die USA übergegriffen hat, erklärt Autor Charles Bowden gegenüber der Washington Post: "In den USA ist Mord schlecht fürs Geschäft, in Mexiko ist Mord Geschäft."

Er ist bei der US-Antidrogen-Behörde DEA als "Gottvater der Drogen-Welt" bekannt, hat mehr Einfluss und "herrscht" über ein größeres Gebiet als einst Pablo Escobar und steht seit 2009 durchgehend auf der Forbes Liste der 100 einflussreichsten Menschen der Welt - er ist der meistgesuchte Mann Mexikos und der meistgesuchte Drogenboss der Welt: Joaquín Guzmán Loera.

Die Regierung seines Heimatlandes hat ein Kopfgeld von 30 Millionen Pesos auf Guzmáns Ergreifung ausgesetzt, die USA haben noch einmal fünf Millionen US-Dollar Belohnung draufgesetzt. Produktion, Schmuggel und Verkauf von Kokain aus Kolumbien, Amphetaminen, Heroin und Marihuana ließen Guzmáns Privatvermögen auf über eine Milliarde Dollar ansteigen, er ist aktuell der zehnt-reichste Mann Mexikos.

Aufstieg und Fall

Aufgrund seiner mit 1,68 Metern relativ kleinen Statur hielt Guzmán als "El Chapo" oder "Shorty", also "der Kleine", in der Kriminalgeschichte Einzug. Über seine frühen Jahre ist wenig bekannt, nicht einmal sein Geburtsdatum kann genau verfiziert werden. Einzig der Geburtsort im Städtchen La Tuna in den Bergen der Provinz Sinaloa gilt als verbürgt.

In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts verschaffte sich Guzmán die nötigen Kontakte nach Asien, ließ in den Provinzen der Pazifikküste entsprechende Labore aus dem Boden schießen und kontrollierte in der Folge mehr oder minder den kompletten Amphetamin-Markt des Landes.

Genießen konnte der Drogenboss seinen Reichtum jedoch nicht. "El Chapo" ist auf der Flucht, im wahrsten Sinne des Wortes. Guzmán war bereits 1993 von den Behörden in Guatemala verhaftet und zwei Jahre später an Mexiko ausgeliefert und dort verurteilt wurden. Ihm standen mehr als 20 Jahre im Gefängnis bevor.

Flucht

Als nach einigen Jahren im Gefängnis das mexikanische Höchstgericht in einem Grundsatzurteil die Auslieferung von mexikanischen Staatsbürgern an die USA vereinfachte, schrillten bei Guzmán die Alarmglocken. Am 19. Jänner 2001 gelang Guzmán jedoch die Flucht.

Nicht weniger als 78 Personen waren nach letztem Ermittlungsstand an seinem Entkommen beteiligt, wohl noch einige Personen mehr standen auf Guzmáns "Payroll" - Experten schätzen, dass die Flucht nicht weniger als 2,5 Millionen Dollar an Bestechungsgeldern verschlungen hatte.

Ein Wärter hatte zunächst die Zellentür geöffnet, ehe "El Chapo" über den Schmutzwäsche-Wagen stieg. Von diesem wurde er in den entsprechenden Wäsche-LKW verladen und an einer Tankstelle in der Umgebung abgesetzt. Dank gezielter Bestechung war sichergestellt, dass Guzmán zumindest 24 Stunden Vorsprung auf seine Verfolger hatte und diesen bis heute behält.

Im Untergrund

In den Folgejahren brach "Der Kleine" zunächst mit dem Juarez Kartell und war später auch mitverantwortlich für den Niedergang des Beltran-Leyva-Kartells. Vor allem die Verschwörung zur Ermordung des Anführers des Juarez-Kartells, Rodolfo Carrillo Fuentes, gilt als entscheidender Funken, der den Kartell-Krieg der letzten sieben Jahre in Mexiko endgültig entfachte.

Der aktuelle Aufenthaltsort Guzmáns ist unbekannt, zuletzt in der Öffentlichkeit gesehen wurde der laut Forbes-Liste meistgesuchte Mann der Welt im Jahr 2005. Zweimal marschierte er mit bewaffneten Bodyguards in ein Restaurant, ließ die Besucher ihre Mobiltelefone ausschalten bzw. "abgeben", schüttelte ein paar Hände, stellte sich vor, dinierte in Ruhe, beglich die Rechnung für alle Anwesenden und verschwand genauso schnell wie er gekommen war.

Kartelle, Koks und Krisenherde

KURIER: Der neue Präsident Peña Nieto fährt eine komplett gegenteilige Kartell-Politik als sein Vorgänger Calderon. Wird er Erfolg haben oder wird die Todesrate so hoch bleiben wie unter seinem Vorgänger?
Howard Campbell: Peña Nieto ist erst seit kurzem Präsident, eine genaue Einschätzung halte ich daher für noch nicht sinnvoll. Bislang haben Morde und Gewalt durch die Drogenkartelle sich nicht wesentlich verändert. Was sich aber sehr wohl geändert hat, ist die Art wie die mexikanische Regierung damit umgeht: Es wird nicht mehr zum obersten Staatsproblem stilisiert, die Anti-Drogen-Einheiten von Polizei und Militär werden sukzessive abgebaut und etwaige Vorfälle werden, so gut es geht, aus den Nachrichten ferngehalten.

Wie hat sich der Drogenkrieg auf die "normale" Bevölkerung ausgewirkt? Glaubt sie, dass ihre Regierung den Kampf gewinnen kann oder arrangiert man sich eher mit der Situation?
Direkte Auswirkungen sind natürlich immer durch den Wohnort bedingt, während die Bevölkerung in Hotspots wie Juarez, Tamaulipas oder Torreon auch durch zahlreiche zivile Opfer schwer getroffen wurde, gilt zum Beispiel die Hauptstadt Mexiko City bislang als relativ sicher und "unbetroffen". Die Situation ändert und verlagert sich jedoch oft von Monat zu Monat.

Meiner Meinung nach ist der überwiegende Teil der Bevölkerung sehr zynisch, was den Glauben an die Fähigkeiten ihrer Regierung im Umgang mit der Drogen-Gewalt betrifft. Die meisten Mexikaner sind der Ansicht, dass die Regierung Teil des Problems und nicht die Lösung ist.

Wie gut sind die Kartelle bereits in den USA verwurzelt bzw. wie wichtig ist Hilfe aus den USA für ihre "Arbeit"?
Die mexikanischen Kartelle dominieren aktuell einen Großteil des Drogen-Groß- und Zwischenhandels in den USA. In manchen Gegenden sogar bis hinunter zum Straßenverkauf. Die Kartelle sind dabei im weitesten Sinne per se "transnational", eine mexikanisch-amerikanische Erscheinung. Ohne Freunde und Kunden in den USA würden sie gar nicht funktionieren können.

Glauben Sie, dass die Welle an Gewalt und Totschlag in die USA überschwappen könnte?
Nein, diese Gefahr bestand nicht und wird wohl auch in Zukunft kein Problem darstellen, zumal die Kartelle die US-Strafverfolgung bis zu einem gewissen Ausmaß durchaus fürchten.

Ist in ihren Augen in absehbarer Zeit eine Abnahme der Gewalt möglich? Wenn ja, was wäre dafür nötig?
Möglicherweise, sofern sich die aktuelle Regierung auf die Kartelle und ihre Funktionsweise einstellt und ihre Arbeit entsprechend anpassen kann und/oder die mexikanische Wirtschaft sich signifikant verbessert.

Howard Campbell, PhD ist Professor für Anthropologie und Soziologie an der University of Texas in El Paso. Er gilt als einer der führenden Experten für den Drogenkrieg in Mexiko und hat unter dem Titel "Drug War Zone" bereits ein Buch zu dem Thema verfasst.

Methyl(1R,2R,3S,5S)-3-(benzoyloxy)-8-methyl-8-azabicyclo[3.2.1]octan-2-carboxylat, besser bekannt als Kokain, ist eine der Haupt-Einnahmequellen der Kartelle. Vom Andenraum aus gelangt das Tropan-Alkaloid entweder direkt oder über Zwischenstationen in Mittelamerika nach Mexiko. Dort nehmen es die Kartelle in Empfang, bringen es über die Grenze in die USA und versorgen den dortigen Markt mit Nachschub - das "Kernbusiness" seit knapp 40 Jahren.

Kartelle, Koks und Krisenherde
Orange County Deputy Probation Officer Erin Merritt holds a spoon with black tar heroin which she found in a probationer's apartment in Santa Ana, California July 22, 2011. The Supreme Court has ordered California to release more than 30,000 inmates over the next two years or take other steps to ease overcrowding in its prisons to prevent "needless suffering and death." Orange County probation department is expecting an additional 1700 probationers by the end of 2014. Picture taken July 22, 2011. REUTERS/Lucy Nicholson (UNITED STATES - Tags: CRIME LAW SOCIETY)
Doch die Kartelle kontrollieren auch die US-Versorgung mit nahezu allen anderen gängigen Drogen. Sostieg etwa die Heroin-Produktionin den Calderón-Jahren dermaßen rasant an, dass Mexiko heute der zweitgrößte Heroin-Produzent der Welt nach Afghanistan ist. Bei dem aus Mexiko stammenden Produkt handelt es sich jedoch vorwiegend um sogenanntes "Black Tar Heroin" - der US-amerikanische Filmemacher Steven Okazaki widmete dem Black Tar Heroin und seinen Süchtigen einesehenswerte Dokumentation. Das dritte "Standbein" besteht in der Produktion und im Vertrieb von Amphetaminen. Auch der Löwenanteil des in den USA konsumierten Marihuana stammt aus Plantagen des südlichen Nachbarstaates.
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