Die Angst vor "Einsamen Wölfen"

Würzburg-Täter in einem Video
Es sieht aus, als habe der Terror eine neue Dimension erreicht: Nicht vernetzte, unauffällige Täter, die sich extrem schnell radikalisieren und mit alltäglichen Gegenständen an unverdächtigen Orten eine Spur des Schreckens hinterlassen.

Paris, Brüssel, Istanbul, Nizza. Und jetzt in einem Regionalzug bei Würzburg. Jenseits von Großstädten und Menschenansammlungen, irgendwo in der unterfränkischen Provinz geht ein 17-jähriger Flüchtling mit einer Axt und einem Messer auf Fahrgäste los. In einem Video bezeichnet sich der Jugendliche als Kämpfer der Terrormiliz Islamischer Staat. Es sieht aus, als habe der Terror eine neue Dimension erreicht: Nicht vernetzte, unauffällige Täter, die sich extrem schnell radikalisieren und mit alltäglichen Gegenständen an unverdächtigen Orten eine Spur des Schreckens hinterlassen. Es ist der Terrorismus, den Sicherheitsbehörden am meisten fürchten. Gegen ihn gibt es kaum präventive Mittel.

Die Strategie des IS

"Ich fühle mich nicht sicher." Den Satz hört man öfter. Auch vor Großereignissen wie dem Oktoberfest. Urlauber meiden die Türkei und Ägypten. "Klar, dass das Sicherheitsempfinden leidet - aber der wichtigste Effekt ist ein politischer", sagt Peter Neumann vom Internationalen Zentrum für Radikalisierung am King's College in London. "Es ist ja genau die Strategie des Islamischen Staates, mit solchen uneinschätzbaren Anschlägen eine Polarisierung hervorzurufen", sagt Neumann. "Es ist eine Art Teufelskreis: Die Extreme auf beiden Seiten der Bevölkerung erstarken, auf der islamistischen und rechtspopulistischen Seite." Die Rechten gewinnen grenzübergreifend: FPÖ, Front National oder die Alternative für Deutschland (AfD).

In der Wahllosigkeit von Ort und Opfern sehen Experten eine neue und alarmierende Stufe. "Der Amokläufer, wie man ihn aus der Literatur kennt, hat ein Ziel, das er als Ursache seines Leidens sieht: Der Arbeitsplatz, an dem ihm gekündigt wurde, die Schule, an der er erfolglos war", sagt der Direktor der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden, Martin Rettenberger. Der IS gibt Ziellosen nun ein - vermeintliches - Ziel. Und das Infame: Dieses Ziel ist überall. "Es sind einsame Wölfe, denen der Islamische Staat eine Projektionsfläche bietet, und ihnen erlaubt, ihre persönlichen Probleme in ein politisches Projekt zu verwandeln", sagt Neumann. "Der IS gibt ihnen sozusagen die Lizenz, die Marke Islamischer Staat dafür zu nutzen."

Allgemeine Mittel verwenden

Neumann zufolge hatte der IS bereits im September 2014 Angriffe wie die von Nizza und Würzburg vorgeschlagen: nicht mit Waffen, sondern mit allgemein zugänglichen Mitteln, Messern, Äxten oder Autos. Neu ist selbst für die Experten: das Tempo der Radikalisierung. Neumann spricht von "Blitzradikalisierung": "Normalerweise gehen wir von Monaten oder Jahren aus." Hier waren es nun Wochen oder sogar nur wenige Tage. "Das ist schon eine neue Qualität."

Zeugen zufolge war der 17-Jährige Täter von Würzburg bisher nicht als radikalisiert oder fanatisch in Erscheinung getreten. "Auch das umfassendste und intensivste Sicherheitskonzept wird solche schrecklichen Anschläge wie gestern Abend nie restlos ausschließen können", sagte Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU). Wo kann man sich noch sicher fühlen: Zuhause? Auf einer Alm? Immer wieder haben Politiker gemahnt, sich nicht einschüchtern zu lassen. "Wir müssen unser Leben weiterleben - sonst haben die Terroristen gewonnen", hieß es. Die Wahrscheinlichkeit eines Unfalltodes bleibe wesentlich höher. "Das Risiko, Opfer eines Terroranschlags oder einer Gewalttat zu werden, ist in Deutschland nach wie vor sehr gering. Das ändert sich auch nicht durch einzelne Anschläge", sagt Rettenberger.

Beschränkte Freiheit

Viele setzten ein Zeichen von Solidarität gegen die Angst. Tausende versammelten sich in Nizza, Gebäude wurden in den Farben der französischen Trikolore blau-weiß-rot angestrahlt, etwa die französische Botschaft in Berlin und die Feldherrnhalle in München bei einem Klassikkonzert. Der bayerische Innenminister ruft die Bevölkerung auf, lieber einmal zu oft als zu wenig die Sicherheitsbehörden zu alarmieren. "Ich glaube, dass die Botschaft richtig ist, aufeinander zu achten. Aber ich glaube auch, dass wir aufpassen müssen, dass es nicht in Hysterie ausartet", sagt Rettenberger dazu. Er warnt davor, aus Angst übereilt Freiheitsrechte zu beschränken. Mehr Überwachung bedeute auch einen Verlust an Freiheit. Fraglich ist aber gerade bei den Anschlägen von Nizza und Würzburg, ob mehr Überwachung die Taten hätte verhindern können.

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