Der real existierende Schein

Der real existierende Schein
Sowjetunion: Die langjährige Osteuropa-Expertin des KURIER, Jana Patsch, erinnert sich an den Alltag im Versuchslabor des Sozialismus.

Ende 1979 marschierte die sowjetische Armee in Afghanistan ein. 1980 fanden die Olympischen Sommerspiele in Moskau und Tallinn (Segelwettbewerbe) statt. Aus Protest gegen den Überfall boykottierten 64 westliche und islamische Länder die Spiele. Sportler aus Österreich nahmen dennoch daran teil.

Im Vorfeld des Sportereignisses organisierte die staatliche sowjetische Fremdenverkehrsorganisation Intourist für österreichische Reiseveranstalter eine Besichtigungsreise. Wie zu erwarten: eine Tour à la Potemkin.

Die österreichische Gruppe wurde mit Bussen herumkutschiert, in denen noch nie ein Russe gesessen war. Im Bus-Inneren gab es nur englische Aufschriften. Die Gäste logierten im neuen Hotel Kosmos, das bis zur letzten Armatur von Franzosen geliefert und gebaut worden war.

Trotz der Posten am Hoteleingang, die den Einheimischen den Zutritt zu der Luxusherberge verwehren sollten, saßen russische Prostituierte in der Lobby. Während der sportlichen Wettkämpfe wurden die käuflichen Mädchen dann jedoch – genau wie die Obdachlosen – aus der Stadt in die Provinz geschafft.

Ballett im Partei-Palast

Außer Besichtigungen hatten die Österreicher auch eine Ballettaufführung des traditionsreichen Bolschoi-Theaters im Programm. Die Vorstellung fand im neuen Kongresspalast des Kreml statt, der für Parteitage der KPdSU gebaut worden war.

In der Pause gingen die Gäste zum Buffet mit Kaviarbrötchen und Sekt, das extra für die Ausländer bereitstand. Nur für sie. Rundherum sahen russische Besucher neidisch zu. Als sie bemerkten, dass die Fremden Deutsch sprachen, stellte einer die rhetorische Frage in den Raum: „Wer hat eigentlich den Krieg gewonnen?“

Die Versorgung der Bevölkerung war damals miserabel. Die Geschäfte waren halb leer. Viele ausgestellte Waren dienten nur zur Dekoration. Einkaufen in der Sowjetunion war eine zeitraubende Prozedur. Der Kunde, der nichts als ein Bittsteller war, stellte sich zuerst am Verkaufspult an, um etwa eine Wurst zu bestellen. Die Verkäuferin wog das Stück ab, legte es zur Seite und sagte, wie viel der Einkauf ausmachen werde.

Man war gut beraten, sich die Summe gut zu merken, denn die Schlange vor der Kassa war lang und ein kleines Konzentrationstief vor der Kassierin hätte bedeuten können: zurück zum ersten Pult. Erst gegen Vorlage des Kassenbons – nach nochmaliger Warteschlange – wurde die notdürftig verpackte Ware ausgehändigt.

Das wichtigste Einkaufsutensil für ältere Frauen war ein Löffel, mit dem sie auf einen Brotlaib Druck ausübten, um den Härtegrad zu testen. Eine gute Idee für jeden, der schlechte Zähne hatte – und die hatten die meisten. In der Fleischabteilung wurden Stücke zugeteilt, wie sie der Verkäuferin unter das Messer kamen. Extrawünsche, etwa nach einem Kotelett, waren undenkbar. Die westliche Touristin, die in der Fischhandlung zu fragen wagte, ob es Kaviar gäbe, wurde mit empörtem Gesichtsausdruck ignoriert. Vermutlich wurde die Fremde für einen Agent provocateur gehalten. Die begehrten Fischeier waren nur gegen harte Devisen in speziellen Läden zu haben.

Dass sich die Sowjetbürger dennoch halbwegs ausgewogen ernähren konnten, ist nur mit dem hohen Selbstversorgungsgrad zu erklären. Schwammerl und Beeren zu sammeln war lebensnotwendig. Angeln war mehr Pflicht als Hobby. Sehr viele Sowjetbürger hatten eine Datscha oder kannten jemanden, der so einen Schrebergarten samt Holzhütte hatte. So ein Eck Erde versorgte Generationen.

Zur Saison setzte eine Völkerwanderung ein. Menschen aus raueren Gegenden zogen südwärts. Die Städter gingen aufs Land, um Erdäpfel und Obst herbeizuschaffen und für den Winter einzulagern. Auf Balkonen in der Stadt wurden Verschläge gebaut, um die Vorräte lagern zu können. Das Häuschen im Grünen war auch die einzige Urlaubsdestination, die man sich leisten konnte. An Reisen ins Ausland war damals nicht zu denken.

All diese Alltagsprobleme bekamen die Touristen aus Österreich nur beschränkt mit. Die Reiseleiterin achtete, dass niemand aus der Gruppe ausscherte, was ohne Russisch-Kenntnisse ohnehin sehr schwer gewesen wäre.

Kriegstraumata

Bei den Tour-Besichtigungen fiel ein schweigsamer Herr auf, der bei näherer Betrachtung auf die russische Erklärung reagierte, noch ehe diese übersetzt wurde. Auf seine vermuteten Russisch-Kenntnisse angesprochen, gab er leise zu, viele Jahre in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern verbracht zu haben. Ein Schicksal, das er mit 100.000 Österreichern teilte. Zwischen 1941 und 1945 gerieten 3,15 Millionen Soldaten der Wehrmacht in Kriegsgefangenschaft.

Nach der Rückkehr nach Niederösterreich hatten den Freigelassenen Albträume geplagt. Auch das Niederschreiben des Erlebten half nicht. Um sein Trauma zu bekämpfen, entschloss sich der Heimkehrer, noch einmal das Land zu besuchen, in dem er so viel Leid erfahren hatte. In einer Gruppen-Reise, die in offizieller Mission unterwegs war, schien es ihm sicher, nicht erkannt zu werden. Doch den Aufenthalt in Moskau konnte er nicht eine Sekunde genießen. Bis zur Abfertigung am Flughafen zitterte er aus Angst vor einer neuerlichen Festnahme.

Die Gräueltaten des Zweiten Weltkrieges haben aber auch die Menschen in der UdSSR traumatisiert. Fast jede Familie beklagte Opfer. Deshalb wurden im ganzen Land Denkmäler errichtet. Praktisch in jedem Dorf gibt es eine Gedenkstätte – auch wenn es oft nur eine auf einem Sockel stehende ausrangierte Kanone sein mag.

Im einstigen Stalingrad steht auf dem Mamajew-Hügel das größte Monument der UdSSR. Der Denkmalkomplex ist wie ein Kalvarienberg konzipiert. Die Stationen entlang der breiten Treppe bilden realistische Skulpturen wild entschlossener Krieger in verschiedenen Kampfpositionen. Auf dem Gipfel: Die Statue der Mutter Heimat mit Schwert in der Hand. Sie ist höher als die Freiheitsstatue in New York. Der Tag des Sieges am 9. Mai ist für die Russen nach wie vor einer der größten Feiertage.

Zur Person: Jana Patsch

Vielreisende Von Kaliningrad im Westen bis Kamtschatka am östlichsten Zipfel der früheren Sowjetunion – die fast drei Jahrzehnte für den KURIER arbeitende Journalistin Jana Patsch hat alle Winkel des einstigen kommunistischen Riesen gesehen. Die Liebe der mittlerweile pensionierten Redakteurin gehörte stets dem „Wilden Osten“. Vor allem aber galt ihr Interesse den einfachen Menschen, die lernten, trotz Diktatur und großer Härten zu überleben. Für den KURIER blickt Jana Patsch nun noch einmal zurück – mit dem ihr ganz eigenen Blick für die Besonderheiten der untergegangenen UdSSR.

 

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