Nach Festnahme: Rätselraten über Motiv

Der zweite mutmaßliche Attentäter wurde geschnappt. Nun wird über die Motive des Brüderpaars gerätselt.

Nach der Erleichterung folgt nun die große Antwortsuche in den USA: Als "ganz normalen Jungen" beschreiben Freunde und Verwandte Dzhokhar Zarnajew, den 19-jährigen mutmaßlichen Attentäter von Boston. Wie wurde also der scheinbar so normale Junge zum Terroristen? US-Medien sind am Tag nach der Großfahndung vor allem ratlos ob der Motive der beiden mutmaßlichen Bombenleger.

Im US-Fernsehen verteidigt die Mutter ihre Söhne und äußert sich empört über die Vorwürfe. Sie seien Opfer der US-Polizei, die ihnen gezielt etwas anhänge, was sie nicht getan hätten.

Todesstrafe droht

Der Terrorverdächtige ist schwer verletzt und nach US-Medienberichten nach wie vor in ernstem Gesundheitszustand. Er habe viel Blut verloren, berichtete der TV-Sender CNN. Das Krankenhaus, in dem er liege, werde schwer bewacht.

Ein Terrorismusexperte des Senders sagte, es sei noch völlig unklar, vor welchem Gericht sich der 19-jährige mit Herkunft aus dem Kaukasus verantworten müsse. Falls er verurteilt werde, drohe ihm die Todesstrafe. Weiter hieß es, die Polizei habe dem Festgenommenen bisher nicht seine Rechte vorgelesen. Dies sei aber in besonderen Fällen möglich. In den so genannten Miranda Rights werde darauf hingewiesen, dass die Aussagen eines Verdächtigen vor Gericht gegen ihn verwendet werden könnten.

Bereits 2011 im Visier des FBI

Die beiden jungen Männer sind nach bisherigen Erkenntnissen tschetschenischer Herkunft, aber lebten mit ihren Familie bereits seit 2002 in den USA, wo sie Asyl erhielten.

Allerdings wurde am späten Freitagabend bekannt, dass einer der beiden mutmaßlichen Attentäter bereits vor zwei Jahren ins Visier der US-Bundespolizei FBI geraten war. Der bei einem Schusswechsel mit der Polizei getötete Bruder sei Anfang 2011 vom FBI befragt worden. Anlass sei die Anfrage einer ausländischen Regierung gewesen. Demnach soll Tamerlan Zarnajew "Anhänger eines radikalen Islam" gewesen sein und sich darauf vorbereitet haben, die USA zu verlassen, um sich Untergrundorganisationen anzuschließen. Laut FBI ergaben die Befragung von Zarnajew und dessen Familie sowie die Überprüfung von Reisedokumenten, Internetverkehr und persönlichen Kontakten damals allerdings keine Anzeichen einer "terroristischen Aktivität".

Subeidat Zarnajewa, die sich als Mutter der beiden Männer bezeichnete, sagte dem englischsprachigen Staatsfernsehen Russia Today am Samstag, Tamerlan habe sich seit etwa fünf Jahren stark für den Islam interessiert. "Aber er hat nie gesagt, dass er den Weg des Jihad einschlagen will."

Großeinsatz

Nach einem Großeinsatz der Polizei ist der mutmaßliche zweite Bombenleger Dzhokhar Zarnajew festgenommen worden. Er wurde am Freitagabend (Ortszeit) auf einem Boot im Garten eines Hauses im Bostoner Vorort Watertown gestellt und mit schweren Verletzungen in ein Krankenhaus gebracht, wie die Polizei mitteilte.

Um exakt 20.45 Uhr (Ortszeit, 2.45 Uhr MESZ) teilte die Polizei via Kurznachrichtendienst Twitter mit, dass sich der junge Mann in Polizeigewahrsam befinde.

Suspect in custody. Officers sweeping the area. Stand by for further info.

Kurze Zeit später hieß es in einer weiteren Mitteilung: "GEFANGEN!!! Die Jagd ist zu Ende. Der Terror ist zu Ende. Und Gerechtigkeit hat gesiegt. Verdächtiger in Polizeigewahrsam."

Die tschetschenischen Behörden waren äußerst bemüht, möglichst rasch eine Verbindung der mutmaßlichen Attentäter von Boston in die Kaukasusrepublik zurückzuweisen. „Die Personen, die in Boston des Verbrechens beschuldigt werden, haben zu Tschetschenien keinerlei Beziehung“, so Alwi Karimow, Sprecher des tschetschenischen Präsidenten Ramsan Kadyrow. Die beiden Brüder Tamerlan und Dschochar Zarnajew hätten die Region bereits im Kindesalter verlassen.

Der Direktor der „Schule Nr. 1“ in Machatkala in der benachbarten Region Dagestan sagte, die Familie sei 2002 ausgereist. An die beiden Brüder könne er sich noch erinnern. Seitens des dagestanischen Innenministeriums hieß es am Freitag, dass man keinerlei Aufzeichnungen über Straftaten der Familie habe.

Motive unbekannt

Daraus ergibt sich eine Familiengeschichte, wie es Tausende gibt in der kriegsgeschüttelten Region: Erst die Flucht vor den Kriegswirren nach Dagestan, danach die Ausreise in die zentralasiatische Republik Kasachstan, wo viele von Stalin deportierte Tschetschenen bis Ende der 80er-Jahre gelebt hatten. Dann die Ausreise in die USA.

Die Motive der beiden mutmaßlichen Attentäter scheinen unbekannt, auch wenn ein islamistischer Hintergrund vermutet wird. Ebenso, ob es Hintermänner gab. Auch, ob das Duo mit einer tschetschenischen oder nicht tschetschenischen Organisation zusammengearbeitet hat.

Klar ist: Auch wenn der Krieg in der Kaukasusrepublik Tschetschenien faktisch beendet ist, Untergrundbewegungen sind nach wie vor in der Region aktiv – vermehrt jedoch in den Nachbarrepubliken Dagestan und Inguschetien. Und sie verfolgen eine zunehmend radikal islamische Agenda, die sich am internationalen dschihaddistischen Mainstream orientiert und eine zunehmend pan-kaukasische Ausrichtung gegen Russland verfolgt. Stichwort: Das Kaukasische Emirat Doku Umarows, eine Organisation, der Verbindungen zu El Kaida nachgesagt wird. Zugleich existiert aber auch der nationalistische Flügel in der tschetschenischen Unabhängigkeitsbewegung, der aber kaum noch militärisch aktiv ist. Nicht zuletzt, da seine Anführer zu einem großen Teil ins Ausland geflohen sind.

Klar ist aber auch: Was die Wahl ihrer Ziele anging, so hatten kaukasische Extremisten mit Verbindungen zu islamistischen Untergrundgruppen wie dem Kaukasischen Emirat eigentlich ausschließlich Russland im Visier. Wobei sie dabei nie zimperlich waren.

Aktivitäten tschetschenischer Extremisten im Ausland sind zwar dokumentiert, jedoch eher selten. Und wenn es um Attentate oder Pläne dafür ging, so handelte es sich erwiesenermaßen um Einzeltäter oder Individuen, die sich Organisationen angeschlossen hatten, die mit der tschetschenischen Sache an sich nichts am Hut hatten.

Einsätze in Syrien

Nur zuletzt wurde eine Beteiligung tschetschenischer Kämpfer im Bürgerkrieg in Syrien bemerkt. Zuvor gab es immer wieder sporadische Meldungen über Tschetschenen, die in Afghanistan oder in Somalia kämpften.

Was das Brüderpaar von Boston angeht, so kann man schon aus der Familiengeschichte schließen, dass sie wohl kaum schon im Kaukasus radikalisiert worden waren. Dass sie, wie berichtet, die Internetseiten kaukasischer Islamistengruppen verfolgten, ist zudem ein nur äußerst magerer Hinweis auf ihr Motiv. Und nur, dass es sich um Tschetschenen handelt, kann wohl kaum ein ausreichender Hinweis darauf sein, was im Kopf dieser jungen Männer vorgegangen ist.

Gesundheitsminister Alois Stöger befindet sich wegen einer Dienstreise in Boston – gestern war er noch in der nun gesperrten Universität Harvard als Redner zu Gast, heute sitzt er aufgrund der aktuellen Ereignisse in seinem Hotel fest: „Ich bin in Boston am Hafen in einem Hotel - und in Sicherheit“, so Stöger am Telefon zum KURIER. Er sei bestens über die Lage informiert - seine Delegation brauche keinen speziellen Schutz, der Generalkonsul begleite sie.

Über die Lage vor Ort meint er, die Stadt sei „sehr ruhig, weil so viele Straßen abgeriegelt sind. Wir wissen nicht, ob wir derzeit das Hotel verlassen könnten. Aber derzeit sind alle Termine verschoben oder abgesagt, weil es kein Weiterkommen gibt, daher stellt sich die Frage gar nicht.“ Man warte jetzt noch.

Stöger ist seit Dienstag spätabends in Boston – die Stimmung bei allen Gesprächspartnern sei sehr betroffen, meint er – „niemand konnte sich vorstellen, dass bei einer friedlichen Veranstaltung so ein Bombenanschlag stattfinden konnte. Es war gestern auch US-Präsident Obama in Boston, es wird versucht damit normal umzugehen. Gestern Abend und heute früh ist die Stimmung besonders nervös, die Polizei steht unter großem Druck.“ Die Nervosität sei sehr hoch, die Menschen besorgt, und es werde überall über die Bombenanschläge diskutiert.

Die Schauplätze in und rund um Boston

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