Barmherzigkeit statt Zensurstelle

Papst Franziskus geht auf die Menschen zu und verlangt das auch vom Klerus: Die Kirche soll allen offenstehen und die Herzen wieder zum Glühen bringen
Liebe ist für Franziskus wichtiger und stärker als Fragen über Homo-Ehe und Abtreibung.

Das erste, sehr ausführliche Interview, das Franziskus in Rom zwei Jesuitenpatres gegeben hat, lässt einen Ruck durch die Kirche gehen. Der Papst fordert von seiner Kirche mehr Mitgefühl mit den Menschen. Er selbst bezeichnet sich als Sünder. Doch er will nicht urteilen. „Gott begleitet die Menschen durch das Leben, und wir müssen sie begleiten und ausgehen von ihrer Situation.“ Die katholische Kirche beschreibt er wie ein „Feldlazarett nach der Schlacht“. Man müsse die Wunden der Menschen heilen und ihre Herzen erwärmen.

Beichtstuhl "kein Folterinstriment"

„Ich denke an die Situation einer Frau, deren Ehe gescheitert ist, in der sie abgetrieben hat.“ Der Papst träumt von einer Kirche „als Mutter und Hirtin“. Er scheut sich nicht, seine Kirche aus ihrem Selbstverständnis als moralische „Zensurstelle“ aufzuschrecken. Die Diener der Kirche müssten barmherzig sein, sich der Menschen annehmen, sie begleiten. Er weiß, dass viele nicht katholisch leben. Er verurteilt Homosexuelle nicht. Der Beichtstuhl sei kein Folterinstrument, sondern ein „Ort der Barmherzigkeit, in dem der Herr uns anregt, das Bestmögliche zu tun.“

So berichtet der Papst von einer wiederverheirateten Frau mit fünf Kindern. „Ihre Abtreibung belastet sie und sie bereut wirklich. Sie will als Christin weitergehen.“ Und sie soll und kann.

„Wir können uns nicht nur mit der Frage um die Abtreibung befassen, mit homosexuellen Ehen, mit Verhütung. Das geht nicht.“„Es gibt nichts Solideres, Tieferes und Festeres als die Verkündigung der heilbringenden Liebe Gottes“, sagt Franziskus. Die Kirche müsse also ein neues Gleichgewicht finden, sonst fällt auch das „moralische Gebäude der Kirche wie ein Kartenhaus zusammen“. Auf allen sozialen Netzwerken wurde das Interview teils überschwänglich positiv, teils aber auch ablehnend kommentiert. Für den Corriere della Sera sind die Aussagen des Papstes über eine barmherzige Kirche revolutionär, manche Blogger waren zu Tränen gerührt. US-Bischof Thomas Tobin zeigte sich „ein bisschen enttäuscht“, dass Franziskus „das Übel der Abtreibung“ ignoriere. Bill Donohue, der konservative Präsident der Catholic League, sagte CNN äußerst spitz: „Ich bin entzückt. Er wird die Lehren der Kirche zur Schwulenehe nicht ändern, er wird die Lehren der Kirche zur Abtreibung nicht ändern.“ „Eine Offenbarung“, schrieb der prominente US-Blogger Andrew Sullivan, ein schwuler Katholik, der offen mit seinem Glauben ringt.

Ich bin tief beeindruckt vom Interview

Eduard Habsburg, ein katholischer Blogger, Twitterer und Medienreferent des St. Pöltner Bischofs Klaus Küng, schrieb seine Stellungnahme für den KURIER: „Ich bin tief beeindruckt vom Interview. Sein tiefes, ernstes Anliegen ist die Rückführung von uns Christen auf das Wesentliche. Franziskus will, dass wir wieder eine heilende, barmherzige Kraft in der Gesellschaft werden. Und zwar jeder von uns. Die Menschen sollen durch uns spüren, dass Gott ein liebender Gott ist und nicht in erster Linie ein urteilender. Jeder von uns muss sich fragen, ob er sich vielleicht zu oft in Kirchenpolitik verrennt und manchmal das konkrete Leid des Mitmenschen vor seiner Türe übersieht. Insofern ist dieser Papst pures Dynamit.“

Die katholische Historikerin und Kommentatorin des vatikanischen Sprachrohrs L’Osservatore Romano, Lucetta Scaraffia, erwartet einen theologischen Schritt des Papstes in Richtung der geschiedenen Katholiken, die wiederverheiratet sind. „Franziskus unterscheidet die Sünde vom Sünder. Der Pontifex betont, dass Homosexuelle nicht anders sind als andere Menschen.“

Sechstündiges Interview

„Die Kirche, mit der wir denken und fühlen sollen, ist das Haus aller – keine kleine Kapelle, die nur ein Grüppchen ausgewählter Personen aufnehmen kann.“Franziskus will auch jene ansprechen, die gleichgültig sind oder sich im Zorn von der Kirche abgewandt haben: „Die Gründe, die jemanden dazu gebracht haben, von der Kirche wegzugehen – wenn man sie gut versteht und wertet –, können auch zur Rückkehr führen. Es braucht Mut und Kühnheit.“ Der Autor des sechsstündigen Interviews, das in drei Tagen geführt wurde, Antonio Spadaro, bezeichnete das Treffen als „spirituelle Lehre“. „Ich bin von der Wärme, der Bestimmtheit, der Kraft und der Einfachheit beeindruckt, mit der Franziskus sich ausgedrückt hat.“ James Martin, der dabei war, sagt: „Der Papst ist noch mehr ein freier Denker, als ich gedacht habe.“

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