Aris Glück: Wiese unter den Tatzen
Wäre Ari in Freiheit aufgewachsen, hätte er wie jeder Braunbär täglich bis zu 30 Kilometer zurückgelegt. Das zehnjährige Bärenmännchen und seine Schwester Arina aber haben kaum ein paar Schritte. Dann stehen die beiden Braunbären vor dem rostigen Eisengitter, das das Ende ihrer Welt bedeutet: 20 Quadratmeter nackter Betonboden. Käfigstäbe vor ihren Schnauzen. Glühende Sonne über ihnen im Sommer. An Winterruhe, wie ihn Bären gewöhnlich halten, nicht zu denken. Nervös laufen sie auf und ab, endlos die Gitterstäbe entlang, immer um die eigene Achse. Tage, Wochen, jahrelang.
Ari und Arina – bis vergangenen Donnerstag waren sie die Attraktion im kleinen, privaten Mini-Zoo Shqiponja nahe der kosovarischen Stadt Prizren. Dass so große Wildtiere in so winzigen Käfigen grausame Qualen leiden, will Besitzer Vezir Shehu nicht wahrhaben. Er will nichts wissen von dem 2010 verabschiedeten Gesetz, das den Privatbesitz von Bären im Land verbietet. „Ich habe sie legal erworben“, schreit er wütend und wachelt hektisch mit diversen Verträgen. Und schon gar nicht glauben will Privat-Zoo-Besitzer Shehu, dass Kosovos Umweltministerium tatsächlich ernst macht. „Wer denkt, das Gesetz brechen zu können, wird verhaftet“, droht Minister Dardan Gashi.
Unter Polizeischutz
Vergangenen Donnerstag schließlich rücken drei Dutzend Polizisten aus. Sie geben den Aktivisten der Tierschutz-Gruppe „Vier Pfoten“ Rückendeckung, die grünes Licht erhalten hat, die beiden Bären aus ihren Käfigen zu holen. Stundenlang muss im Zoo zwischen Pfauenrufen, Bellen, Schnattern und Kreischen verhandelt werden. Anhänger des erbosten Zoobesitzers strömen in Scharen herbei. Die beiden Bären spüren die Nervosität um sie herum, laufen hektisch im Kreis, hecheln – bis die Bärenretter endlich doch noch Ari und Arina narkotisieren und aus ihren Käfigen holen dürfen.
Betreutes Wohnen
Frei wie die anderen, rund 300 im Kosovo wild lebenden Bären werden Ari und seine Schwester Arina nie mehr werden. „Sie könnten nicht überleben, sind zu abhängig und an Menschen gewöhnt“, erzählt „Vier-Pfoten“-Präsident Heli Dungler. Im Bärenwald Prishtina, inmitten waldiger Hügel zwanzig Kilometer östlich der kosovarischen Hauptstadt, haben die Bärengeschwister ihre neue, betreute Heimat gefunden. Weitere Tiere werden zu ihnen auf das 16 Hektar große Areal stoßen – bis Jahresende sollen es laut Umweltministerium alle 14 Braunbären sein, die jetzt noch private kosovarische Besitzer haben.
Die meisten dieser Tiere fristen ein grausames Dasein. Eingesperrt in winzige Käfige, als sogenannte Restaurant-Bären, sollen sie Gäste anlocken. So wie Kassandra, die schwer kranke, unterernährte und traumatisierte zehnjährige Bärin, die ihr Besitzer einfach vergessen hatte, nachdem er sein Restaurant zugesperren musste. „Vier-Pfoten“-Mitarbeiter retteten das Tier, holten sie schließlich in den Bärenwald, noch ehe dieser fertig gestellt war. „Aber anders hätte sie nicht überlebt“, erzählt Bären-Projektleiter bei „Vier Pfoten“, Carsten Hertwig.
Für Ari, Arina und Kassandra öffnet sich am Freitag zum ersten Mal in ihrem Bärenleben das Tor zu einer Wiese. Während Kassandra viele Stunden braucht, um sich aus ihrem Gatter zu wagen, marschiert das Geschwisterpaar drauf los. Der weiche Wiesenboden unter den Tatzen, die Bäume und ihre wackelnden Äste, das Wasser und die Erde – es dauert nur Momente und Ari und Arina toben, springen, drehen sich und hüpfen, dass ihren Betreuern draußen vor dem Maschendrahtzaun die Tränen in die Augen schießen. Irgendwann riskiert auch Kassandra einen Blick: Nie zuvor hat sie einen anderen Bären gesehen.
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Wie in fast allen Balkanländern gibt es auch im Kosovo, dem jüngsten Staat der Welt, noch Populationen von Bären (geschätzt 300) und Wölfen. Natur- und Tierschutz ist in der ehemaligen Kriegsregion noch ein junges Feld – hat aber einige Erfolge vorzuweisen: Seit 2011 wurde die Fläche der Nationalparks von zwei auf 11 Prozent des Landesterritoriums ausgeweitet. In Österreich sind 2,8 Prozent der Landesfläche als Nationalpark ausgewiesen.
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