Sind Sie ein guter Richter? Teil 1

Istock, APA/HERBERT NEUBAUER kurier-fotomontage: christine karner
Nicht nur in Strafverfahren, auch im Zivilgericht entscheiden Laienrichter mit. Der KURIER legt echte Kriminalfälle und andere Prozessrätsel zur Lösung vor.

Der damals siebenjährige Andreas wurde in Feldkirch, Vorarlberg, beim Überqueren einer Straße von einem Omnibus angefahren. Der Bus überrollte den linken Fuß des Buben. Er erlitt ein offenes Quetschungstrauma des Vorfußes sowie Frakturen des Mittelfußknochens und mehrerer Zehen.

Nach der ersten Operation wurde die zweite Zehe schwarz oder nekrotisch, wie die Ärzte das nennen, und musste in einem zweiten Eingriff teilweise amputiert werden. Der leidgeprüfte Bub wurde noch ein drittes Mal operiert, medizinische Sachverständige errechneten acht Tage starke, drei Wochen mittelstarke und sieben Wochen leichte Schmerzen. Andreas wird in Zukunft pro Jahr mindestens fünf Tage leichte Schmerzen haben. Die Gerichte bemessen die Schmerztage regional unterschiedlich je nach Intensität mit 100 bis 400 Euro.

Der Unfall geschah bereits am 17. Dezember 2009. Andreas trug bis 26. November 2010 einen Gips, in der Folge bis 13. Dezember 2010 – also fast ein Jahr nach dem Unfall – einen Zinkleimverband. Als Dauerzustand ist ihm die fast vollständig amputierte zweite Zehe am linken Fuß sowie eine verkürzte dritte Zehe geblieben.

Nie beschwerdefrei

Der Fuß ist vermindert belastbar, der Abrollvorgang ist gestört. Ausdauersportarten wie zum Beispiel Langstreckenläufe werden Andreas in seinem ganzen Leben nicht möglich sein. Auch wenn er sich an die Umstände gewöhnen mag, vollkommen beschwerdefrei wird Andreas nie mehr sein.

Die Versicherung des schuldtragenden Omnibus-Lenkers wurde zum Schadenersatz verurteilt. Zunächst wurden dem Buben 11.500 Euro Teilschmerzensgeld zugesprochen, nach Ende der medizinischen Behandlung klagte er (bzw. klagten seine Eltern) wegen der Dauerfolgen weitere 34.000 Euro ein.

Ist das viel? Ist es genug? Steht ihm dieser Betrag zu?

Das Verfahren ging durch drei Instanzen und endete kürzlich vor dem Obersten Gerichtshof OGH). Die Berufsrichter zogen für ihre Beurteilung vergleichbare andere Fälle heran.

Der erste stammt aus dem Jahr 1996. Ein 15 Monate alter Bub geriet bei einem Kinderfest mit dem linken Mittelfinger in den Gebläsemotor einer Luftburg. Der Finger musste teilweise amputiert werden. Der Bub hatte einen Tag starke, zwei Tage mittelstarke und zehn Tage leichte Schmerzen. Die Minderung der Erwerbsfähigkeit wird mit zwei Prozent berechnet, eine funktionelle Beeinträchtigung der Hand war nicht zu erwarten. Das Gericht sprach dem Buben 1800 Euro zu.

Eine 43-jährige Beamtin verlor bei einem Unglück das Endglied der zweiten Zehe, dazu kamen Brüche und Quetschungen anderer Zehen, dem Oberlandesgericht Wien war das 10.000 Euro Schmerzensgeld "wert". Einer Schülerin musste das Endglied der linken großen Zehe amputiert werden, 14.000 Euro an finanziellem Ausgleich wurden zugesprochen. Ein Facharbeiter bekam für die Quetschung des linken Fußes 24.000 Euro zuerkannt. Es wurde berücksichtigt, dass künftig das Tragen normaler Arbeitsschuhe nur unter größter Anstrengung möglich ist. Und 32.000 Euro wurden einer Oberösterreicherin zuerkannt, bei der sämtliche Zehen des linken Fußes amputiert werden mussten.

Ehe Sie Ihr Urteil fällen, bedenken Sie: Ein Fahrlehrer, der seit einem Unfall zu 90 Prozent blind ist, bekam 75.000 Euro. Und das höchste zugesprochene Schmerzensgeld von 218.000 Euro ist für das Opfer eines Geisterfahrers kaum ein Trost: Der 21-Jährige bleibt vollständig gelähmt und muss ein Leben lang künstlich beatmet werden. Unten finden Sie (auf den Kopf gestellt) das OGH-Urteil.

Der Oberste Gerichtshof befasst sich nur dann mit Schmerzensgeldansprüchen, wenn die unteren Instanzen allzu stark von den Vorgaben der Rechtssprechung abgewichen sind. Das war hier der Fall. Das Landesgericht Feldkirch hatte zu den ursprünglich bezahlten 11.500 Euro weitere 10.000 Euro zugesprochen. Das Oberlandesgericht (OLG) Innsbruck erhöhte um weitere 10.000 Euro. So viel wollte die Versicherung des schuldtragenden Omnibus-Lenkers nicht zahlen und wandte sich an den OGH. Das Höchstgericht nahm eine Korrektor vor und hielt eine Erhöhung der Vorauszahlung um 10.000 Euro für angemessen. Insgesamt stehen dem siebenjährigen Buben, der bei dem Unfall eine Zehe eingebüßt hatte, also 21.500 Euro Schmerzensgeld zu. Der Privatrechtler Christian Huber von der Uni im deutschen Aachen erklärt in der Zeitschrift für Verkehrsrecht (Manz, dass das Schmerzensgeld umso höher ausfallen muss, je jünger eine verletzte Person ist. Die Beeinträchtigung des Buben hält sich in den Augen des OGH aber offenbar in Grenzen.

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