Wiesenthal-Center: Österreich versagt bei Nazi-Verfolgung

Schriftzug bei einem Holocaust-Mahnmal in Stuttgart.
Österreich habe es drei Jahrzehnte versäumt, Urteile wegen Verbrechens gegen Juden während des Holocausts zu fällen, heißt es im Jahresbericht des Simon-Wiesenthal-Zentrums. Deutschland sei bei Verfolgung von Holocaust-Verbrechern am erfolgreichsten.

Rund 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden immer noch zahlreiche NS-Verbrecher verfolgt - wenig erfolgreich darin ist Österreich. Das kritisiert das Simon-Wiesenthal-Zentrum in Jerusalem in seinem am Donnerstag veröffentlichten Jahresbericht. Österreich habe es drei Jahrzehnte versäumt, Urteile wegen Verbrechens gegen Juden während des Holocausts zu fällen, heißt es darin.

Das Simon-Wiesenthal-Zentrum beschäftigt sich mit der weltweiten Suche nach untergetauchten Nazi-Verbrechern und Kollaborateuren. In dem jüngsten Jahresbericht beleuchtete Zentrumsleiter Efraim Zuroff den Zeitraum zwischen 1. April 2015 und 31. März 2016. In Österreich liefen zu diesem Zeitpunkt Ermittlungen wegen nationalsozialistischen Verbrechen gegen zwei Personen: zum einen im Zusammenhang mit einem Euthanasieprogramm in Tirol gegen Unbekannt, zum anderen gegen Alois Brunner.

Wiesenthal-Center: Österreich versagt bei Nazi-Verfolgung
APAJAE11 - 13072007 - WIEN - OESTERREICH: ZU APA II - Das Justizministerium setzt nun erstmals eine Ergreiferpraemie fuer zwei mutma§liche NS-Verbrecher aus. Fuer Hinweise, die zur "Ausforschung, Ergreifung und Verurteilung" des frueheren KZ-Arztes Aribert Heim und des frueheren SS-Hauptsturmfuehrer Alois Brunner fuerhren, sollen je 50.000 Euro bezahlt werden. HELMUT FOHRINGER
Der ehemalige SS-Hauptsturmführer soll als "Ingenieur der Endlösung" für den Tod von etwa 130.000 Juden aus mehreren Ländern verantwortlich sein. Das Wiesenthal-Zentrum hatte Brunner bereits 2014 von der Liste der meistgesuchten NS-Verbrecher entfernt, nachdem es von deutschen Geheimdienstmitarbeitern die Information erhalten hatte, Brunner sei in Damaskus gestorben und begraben worden. Medien berichteten Anfang des Jahres unter Berufung auf frühere Mitglieder des syrischen Geheimdienstes ebenfalls von dem Ableben des gebürtigen Österreichers.

Lob gab es unterdessen für das Nachbarland Deutschland. Dem Bericht zufolge gab es dort die größten Entwicklungen und Erfolge in der strafrechtlichen Verfolgung von NS-Verbrechern. Innerhalb von einem Jahr hätten die deutschen Behörden gegen 42 Menschen Ermittlungen aufgenommen. International gesehen belief sich die Zahl der neuen Untersuchungen auf 70 (Neben Deutschland: Italien mit 36 und Dänemark mit 2). Aktuell gibt es laut des Berichts insgesamt Ermittlungen in 1.503 Fällen, davon 1.163 in Deutschland, 324 in Polen, Italien 8, Litauen 6 und Österreich 2.

Wiesenthal-Center: Österreich versagt bei Nazi-Verfolgung
Romani Rosi (v.l.), Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Bundespraesident Christian Wulff und Dieter Graumann, Praesident des Zentralrats der Juden in Deutschland, gedenken am Donnerstag (27.01.11) im Konzentrationislager (KZ) Auschwitz bei einer Kranzniederlegung der Opfer des Nationalsozialismus. Die Befreiung des KZ Auschwitz durch die Rote Armee jaehrt sich am Donnerstag zum 66. Mal. Anlaesslich des Holocaust-Gedenktags reist Bundespraesident Wulff nach Polen und haelt in Auschwitz als erstes deutsches Staatsoberhaupt eine Rede. (zu dapd-Text) Foto: Michael Gottschalk/dapd
Anklage erhoben Gerichte in Deutschland in zwei Fällen. Beide Beschuldigten stehen wegen Beihilfe zum Mord im Todeslager Auschwitz-Birkenau vor Gericht. Im gleichen Zeitraum gab es eine Verurteilung: Oskar Gröning wurde in Lüneburg im Alter von 95 Jahren wegen Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen schuldig gesprochen. Er wurde zu vier Jahren Haft verurteilt.

"Die Verlängerung der Lebenserwartung macht es möglich, weiterhin Holocaust-Verbrecher vor Gericht zu bringen, sogar zu diesem späten Zeitpunkt", sagte Zuroff laut der dpa. "Das Verstreichen der Zeit verringert in keiner Weise die Schuld der Täter, noch sollte hohes Alter denjenigen Schutz bieten, die diese Verbrechen begangen haben."

Hintergrund sei offensichtlich die veränderte Praxis, auch gegen Handlanger vorzugehen, die mit ihren Tätigkeiten lediglich die Tötungsmaschinerie der Nazis unterstützten. Für eine Verurteilung mussten die Angeklagten nicht mehr an einzelnen Mordtaten direkt beteiligt gewesen sein.

Wiesenthal-Center: Österreich versagt bei Nazi-Verfolgung
Auf einer Gedenkplatte im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald bei Weimar liegt zum Holocaust-Gedenktag am Dienstag (27.01.2009) eine Rose. In Thüringen wird in zahlreichen Veranstaltungen an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Den Holocaust-Gedenktag gibt es jährlich am 27. Januar. Anlass ist der Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945. Foto: Martin Schutt dpa/lth +++(c) dpa - Bildfunk+++

Nazi-Kriegsverbrecher: Lange Suche, späte Sühne

Mehrere NS-Kriegsverbrecher mussten sich erst Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg für ihre Taten vor Gericht verantworten. Andere konnten sich bis heute einer Strafverfolgung entziehen.

Alois Brunner: Einer der wichtigsten bisher strafrechtlich nicht verfolgten Nazi-Kriegsverbrecher ist höchstwahrscheinlich nicht mehr am Leben. Medien berichteten Anfang des Jahres unter Berufung auf frühere Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes, der aus Österreich stammende Brunner sei im 2001 im Alter von 89 Jahren unter elenden Bedingungen in der syrischen Hauptstadt Damaskus gestorben - dort wurde er auch vor 15 Jahren zuletzt gesehen. Der ehemalige SS-Hauptsturmführer soll als "Ingenieur der Endlösung" für den Tod von etwa 130.000 Juden aus mehreren Ländern verantwortlich sein.

Aribert Heim: Nach Presseberichten soll der als "Dr. Tod" berüchtigte frühere KZ-Arzt bereits 1992 im Alter von 78 Jahren in Kairo gestorben sein. Das Strafverfahren wegen mehrfachen Mordes gegen dem im steirischen Bad Radkersburg geborenen Heim wurde daraufhin 2012 eingestellt. Er arbeitete in den Konzentrationslagern Sachsenhausen (1940), Buchenwald (1941) und Mauthausen. Im oberösterreichischen KZ soll er Hunderte Häftlinge mit tödlichen Injektionen unter anderem direkt ins Herz umgebracht zu haben.

John Demjanjuk: Der 91-jährige gebürtige Ukrainer starb im März 2012 in einem bayerischen Pflegeheim - nur zehn Monate nach seiner Verurteilung als Holocaust-Helfer. Das Landgericht München hatte Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an mehr als 28.000 Juden im Vernichtungslager Sobibor zu fünf Jahren Haft verurteilt. Mit Blick auf sein hohes Alter wurde der Haftbefehl aber aufgehoben.

Milivoj Asner: Der ehemalige Polizeichef in Kroatien soll aktiv an der Verfolgung und Deportation Hunderter Serben, Juden sowie Sinti und Roma beteiligt gewesen sein. Österreich lieferte den in Kärnten lebenden Asner nicht an Kroatien aus, weil ihm mehrere Gutachten Vernehmungsunfähigkeit wegen Demenz attestierten. Er verstarb am 14. Juni 2011 in einem Klagenfurter Pflegeheim mit 98 Jahren.

Oskar Gröning: Das Landgericht Lüneburg in Deutschland verurteilt im Juli 2015 den als "Buchhalter von Auschwitz" bezeichneten Gröning zu vier Jahren Haft wegen der Beihilfe zum Mord in 300.000 Fällen. Gründlich, effizient und gnadenlos hätten Menschen wie er zum Funktionieren der Tötungsmaschinerie beigetragen, heißt es im Urteil. Dieses Urteil wird später vom deutschen Bundesgerichtshof bestätigt.

Reinhold Hanning: Der heute 95-jährige frühere Auschwitz-Wachmann wird im Juni 2016 zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Das Landgericht Detmold in Deutschland befindet ihn der Beihilfe zum Mord in 170.000 Fällen für schuldig. Als SS-Unterscharführer habe er zum Funktionieren der Mordmaschinerie beigetragen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Heinrich Boere: Der Nazi-Verbrecher wurde im März 2010 wegen dreifachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Der zur Zeit des Urteils 88-Jährige hatte vor dem Aachener Landgericht gestanden, 1944 als Mitglied des SS-Mordkommandos "Feldmeijer" drei niederländische Zivilisten erschossen zu haben. Im Dezember 2011 trat er seine Haft an. Boere war bereits 1949 in den Niederlanden in Abwesenheit verurteilt worden, diese Strafe wurde aber nie vollstreckt.

Erna Wallisch: Die in Wien lebende KZ-Aufseherin Erna Wallisch ist 2008 im Alter von 86 Jahren gestorben. Die 1922 geborene Tochter eines Postbeamten aus Thüringen arbeitete vom Oktober 1942 bis zum Jänner 1944 im Konzentrationslager im Lubliner Stadtteil Majdanek. Sie selbst hatte stets beteuert, die Gefangenen im KZ nur beaufsichtigt zu haben. Das Strafverfahren gegen Wallisch, die im Besitz einer österreichische Staatsbürgerschaft war, musste schlussendlich wegen ihres Todes eingestellt werden; ein anderes wegen Verjährung.

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sollten die NS-Täter juristisch zur Rechenschaft gezogen werden: Während in Deutschland diese Aufgabe vor allem von der alliierten Gerichtsbarkeit übernommen wurde, ließen die Besatzungsmächte hierzulande den eigens gegründeten Volksgerichten meist freie Hand.

Zwischen 1945 und 1955 wurde in knapp 137.000 Fällen eine gerichtliche Voruntersuchung wegen des Verdachts nationalsozialistischer Verbrechen oder "Illegalität", also einer Mitgliedschaft bei der NSDAP zur Zeit ihres Verbots in Österreich zwischen 1933 und 1938, eingeleitet. Die Volksgerichte in Wien, Graz, Linz und Innsbruck fällten bis zu ihrer Abschaffung im Jahr 1955 mehr als 23.000 Urteile, davon 13.607 Schuldsprüche, wie Historikerin Claudia Kuretsidis-Haider von der Zentralen österreichischen Forschungsstelle Nachkriegsjustiz am Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (DÖW) im Rahmen einer Ausstellung 2005 erklärte. Vor allem in den ersten Jahren nach Kriegsende waren die Volksgerichte sehr aktiv.

Im Gegensatz zu Deutschland erließ Österreich für diese Prozesse eigene Gesetze: Mutmaßliche NS-Täter wurden nach dem Verbotsgesetz bzw. nach dem Kriegsverbrechergesetz angeklagt. In Deutschland verließ man sich dagegen auf das bestehende Strafgesetzbuch. "Im Großteil der österreichischen Verfahren ging es um Formaldelikte - etwa eine falsche Angabe zur Mitgliedschaft in der NSDAP", berichtete die Historikerin. Denn nach Kriegsende mussten sich alle ehemaligen Parteimitglieder deklarieren. In mehr als 500 Verfahren ging es allerdings um Gewaltverbrechen, 43 Todesurteile wurden gefällt, von denen 30 vollstreckt wurden.

"In Summe kann man für diese frühe Zeit sagen, dass die Justiz durchaus streng geahndet hat", meinte Kuretsidis-Haider. Allerdings habe die Politik teils massiv eingegriffen: "Die Zahl der Begnadigungen war enorm." 1955 sollten nach Berechnungen des DÖW noch mehrere hundert Menschen in Haft sitzen, allerdings waren es - dank politischer Interventionen - gerade einmal 14. "Man versuchte, die ehemaligen Nazis wieder zu integrieren und sich so auch Wählerpotenzial zu sichern."

An den Volksgerichten konnte Österreichern, die Verbrechen in der damaligen Ostmark ebenso wie in den Konzentrations- und Vernichtungslagern im Osten begangen hatten, aber auch ehemaligen "reichsdeutschen" Staatsbürgern der Prozess gemacht werden. "Daneben existierte natürlich die alliierte Gerichtsbarkeit, sie hat aber einen weitaus geringeren Prozentsatz an Verbrechen geahndet. Die Hauptlast trugen die Volksgerichte." Die Alliierten ließen ihnen dabei meist freie Hand - Pläne etwa der Briten, große Prozesse selbst durchzuführen, oder der US-Amerikaner, in Salzburg ein Tribunal wie in Nürnberg einzurichten, wurden schnell ad acta gelegt.

Als erstes nahm das Volksgericht in Wien seine Arbeit auf, die anderen Bundesländer folgten 1946. Zwar wurden in den ersten Monaten viele Verfahren eingeleitet, allerdings litten die Gerichte ständig an Personalmangel: Denn die Bestimmungen sahen vor, dass an diesen Schöffengerichten, die mit drei Laienrichtern und zwei Berufsrichtern besetzt waren, keine ehemaligen Nationalsozialisten wirken durften. "Und in der Gruppe der Richter war die Quote der NSDAP-Mitglieder im Vergleich zu anderen Berufsgruppen sehr hoch", erklärte Kuretsidis-Haider. Rekrutiert wurden also junge Nachwuchsrichter bzw. Juristen, die bereits im austrofaschistischen Ständestaat tätig und inzwischen in Pension waren.

Die Öffentlichkeit habe dabei regen Anteil genommen: Die Prozesse waren öffentlich zugänglich und fanden durchaus ihr Publikum. Das spiegle sich auch in den Zeitungsberichten dieser Zeit wieder, die den Verfahren - trotz Papiermangels - viel Platz für Text und Bild einräumten.

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