Tausende Menschen marschierten einfach los

Als die Menschen hörten, Deutschland wäre ganz nahe, gab es kein Halten mehr: Der Flüchtlingsstrom zog durch den Grenzort in Richtung Norden.
Flüchtlinge verließen Sammelstelle in Spielfeld, weil sie glaubten, Deutschland sei ganz nahe.

Baschar hat Schmerzen beim Atmen, im Gedränge wurde der neunjährige Bub aus Deir ez Zouz in Syrien heftig gegen ein Gitter gepresst. Noch bevor er mit seiner Mutter und drei kleinen Schwestern in den Bus einsteigen kann, der die Familie von Spielfeld in ein Notquartier bringen soll, bricht Baschar zusammen.

Eine halbe Stunde später bricht in Spielfeld das Chaos aus: 3500, manchen Schätzungen zufolge sogar 4000 Flüchtlinge, drängen sich Mittwoch hinter den Sicherheitsschleusen. Eigentlich haben hier nur 2000 Leute Platz. Es kommt Bewegung in die Menge: Menschen springen über die Absperrgitter, rund 3000 verlassen die Versorgungs- und Registrierungsstelle an der Grenze zu Slowenien. Polizisten und Soldaten lassen sie ziehen. Der KURIER berichtete live.

Aufhalten unmöglich

Damit sei das schlimmste Szenario eingetroffen, bedauert Landespolizeidirektor Josef Klamminger. "Dass sich die Menge in Bewegung setzt. Wenn 2000 zu gehen beginnen, wird man sie nicht halten können." Viele Flüchtlinge seien schon lange unterwegs und ungeduldig, aber auch fordernd. "Sie verlieren die Nerven. Und wenn der Herdentrieb Platz greift, brechen sie aus." Die einzige Alternative sei, sie gewaltsam zu stoppen. "Aber das will niemand."

Die Flüchtlinge marschieren Mittwochnachmittag die Bundesstraße B 67 entlang. Wohin? " Deutschland, Deutschland", skandieren ein paar junge Männer auf Englisch. Die Polizei sperrt die Zugangswege zur Autobahn und zur Zugstrecke, um wenigstens sie freizuhalten. Autolenker fahren streckenweise nur noch im Schritttempo, um die Menschen nicht zu gefährden.

Etwa 1000 Flüchtlinge kehren aber bereits nach kurzer Zeit wieder um und kommen zurück an die Grenze. Sie sitzen auf dem Lkw-Parkplatz, Dolmetscher versuchen sie über Megafone zu bewegen, wieder zurück in die Sammelstelle zu gehen.

Tausende Menschen marschierten einfach los
ABD0069_20151021 - SPIELFELD - ÖSTERREICH: ZU APA0203 VOM 21.10.2015 - Ein Polizist und Flüchtlinge am Eingang zum Sammelzentrum an der Slowenisch-Österreichischen Grenze im Gebiet von Spielfeld am Mittwoch, 21. Oktober 2015. Am Mittwoch gegen 10:00 Uhr sind 1.500 bis 2.000 Menschen auf einmal am Grenzübergang Spielfeld angekommen. - FOTO: APA/ERWIN SCHERIAU

Am späteren Nachmittag machen auch viele Menschen, die auf der Bundesstraße Richtung Norden marschieren, wieder kehrt: Von Spielfeld aus fahren trotz der Turbulenzen weiterhin Busse in Notquartiere, das dürfte sich herumgesprochen haben. Dolmetscher erfragten dann unter den Rückkehrern den Grund für den hastigen Aufbruch: Unter den Flüchtlinge habe die Meldung die Runde gemacht, Deutschland sei nur "ein paar Kilometer" entfernt.

Die Polizei versucht schließlich von Hubschraubern aus, einen Überblick zu bekommen: Am frühen Nachmittag schätzt man die Anzahl der auf der B 67 Marschierenden auf 1500. Letztlich dürften rund 300 übrig sein, die auf eigene Faust weiter in Richtung Norden gehen. "Einfangen können wir sie nicht", kommentiert Klamminger. "Sie sind auf sich gestellt. Aber viele haben Geld, fast alle haben einen Zugfahrplan."

Mehr Platz in Halle

Der Rückstau in Spielfeld dürfte in den nächsten Tagen aber noch wachsen. Die Übergangsquartiere in Graz und Umgebung, die vom Roten Kreuz betreut werden, sind voll. Dabei wurde angesichts der Situation in der Nacht zum Mittwoch die Belagszahl in der ehemaligen Baumarkthalle in Graz-Straßgang von 1100 auf 1900 aufgestockt: 4200 Menschen kamen von Sentilj auf der slowenischen Seite der Grenze und überraschten damit die steirischen Einsatzkräfte.

Bis Mittwochfrüh konnten jedoch 3700 von ihnen untergebracht werden. "Mit 5000 Menschen täglich ist jetzt zu rechnen", prognostiziert Polizeichef Klamminger. Doch die Quartiere in ganz Österreich seien "ziemlich voll". Ähnliches gilt für die Sammelstellen in Kroatien und Slowenien: 11.000 warteten gestern in Slowenien auf die Weiterreise, in Kroatien zumindest 8000.

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