Der Migranten-Express durch Europa

Mangels Sitzplatzreservierung stehen Flüchtlinge auf den Gängen.
Nur sporadische Polizei-Kontrollen in den Fernzügen von Ungarn nach Wien und München.

Jeden Tag durchqueren unzählige Migranten Österreich in Fernzügen. Denn den Slogan "Nerven sparen, Bahn fahren" haben auch die ungarischen Schlepperorganisationen für sich entdeckt. Während die österreichische Polizei versucht, per "Schleierfahndung" auf den Autobahnen einzelne Schlepper aus dem Verkehr zu ziehen, läuft der Migranten-Transit auf der Bahn reibungslos – und gefahrlos, denn kein Schlepper muss die Verhaftung und eine gerichtliche Verurteilung fürchten.

KURIER-Lokalaugenschein am Budapester Hauptbahnhof Keleti: Mit zunehmender Dunkelheit sammeln sich Gruppen von Syrern, Irakern und Afghanen. Sie sitzen bei der Wasserpfeife, spielen Karten und warten auf ihre "Freunde". Gemeint sind jene Schlepper, von denen sie die Zugtickets erhalten.

Sinnhaftigkeit

Der Migranten-Express durch Europa
Bahnhof Keleti
Es ist Nervosität spürbar, aber keine Angst. Ja, gestern im Frühzug hätte die ungarische Polizei ein paar Kollegen verhaftet. Das sei aber nicht schlimm. Man werde relativ rasch wieder freigelassen, mit dem Auftrag, das Land binnen 72 Stunden zu verlassen – wobei die Flüchtlinge die Sinnhaftigkeit der Maßnahme nicht verstehen. Sie wurden ja verhaftet, als sie das Land verlassen wollten.

Um 21 Uhr rollt der Nachtzug nach München los. Die Flüchtlinge bevölkern den Gang. Denn die paar Euro für die Sitzplatzreservierung haben sich die "Freunde" erspart. Es herrscht gespannte Ruhe. Nach dem Grenzbahnhof Hegyeshalom exakt um 23.48 Uhr wird die Ruhe jäh unterbrochen. "Fahrscheinkontrolle!" Die Flüchtlinge erstarren. Sie meinen, es sei die Polizei. Ein alter Syrer bedauert sofort, dass er keinen Reisepass dabei habe. Doch der Mann des Gesetzes ist kein Polizist, sondern der österreichische Schaffner. Und jetzt ist seine Stunde gekommen. Denn während die Flüchtlinge der Meinung sind, sie hätten gültige Tickets bis München, weiß der Schaffner aus Erfahrung, dass diese alle nur bis Hegyeshalom gelten. Jetzt geht’s ans Zahlen. "Wo wollen Sie hin?" Ausnahmslos alle nach München. Der Schaffner nimmt pro Nase etwas mehr als 50 Euro. Damit kommen sie zwar nur bis Salzburg, aber von dort ist es ja auch nicht mehr weit nach Deutschland.

Auf die Frage eines Österreichers, warum er die anderen Fahrgäste nicht kontrolliere, antwortet der Schaffner durchaus schlüssig: "Ich muss die am Gang alle noch vor Wien erwischen. Die anderen kommen nachher dran."

Volle Kassen

Dass der Zug nach Hegyeshalom zeitweilig ins Schritttempo verfällt und eine Verspätung von einer Dreiviertelstunde verbucht, mag Zufall sein. Für den Schaffner war jedenfalls genug Zeit, alle zu "erwischen". Fast alle zahlen. Den Waggon 319 verlässt er mit geschätzten 1500 Euro in der Schaffner-Tasche. Das ist gut für die Kassen der ÖBB und entlastet gleichzeitig das Erstaufnahmezentrum in Traiskirchen.

Nur eine Gruppe von etwa 10 Syrern verließ am Hauptbahnhof den Wien-Zug. Wenn sie es nicht schaffen, Geld für die Weiterfahrt zu organisieren, landen sie irgendwann in Traiskirchen. So wie jene, die bei den stichprobenartigen Zugkontrollen der Polizei aufgegriffen werden. Von den täglich 20 Fernzügen können nur drei kontrolliert werden. Dabei wurden im Monat Juli 1320 Personen aufgegriffen. Diese werden auf Staatskosten nach Traiskirchen gebracht, wo sie nur auf die erste Gelegenheit warten, wieder zu einem Bahnhof zu kommen. Denn ihre Kollegen sind ja längst in München, dort wollen sie auch hin.

Mittlerweile gehört das Bild an den Hauptverkehrsrouten zum Alltag. Eine große Gruppe Flüchtlinge, die auf oder neben der Autobahn umherirrt und mitunter für lebensgefährliche Situationen sorgt. So schlimm wie Donnerstagfrüh war die Situation in Niederösterreich aber noch nie. Bei Gießhübl (Bezirk Mödling) irrten 80 ausgesetzte Flüchtlinge auf der A21 umher und überquerten im dichten Frühverkehr sogar die Autobahn.

Entdeckt wurden die Einwanderer von zwei Mitarbeitern der Autobahnmeisterei Alland bei einer routinemäßigen Kontrollfahrt. „Die beiden haben ein Fahrzeug in sehr schlechtem Zustand am Pannenstreifen stehen gesehen und dann auch gleich eine Menschenansammlung. Unsere Mitarbeiter haben die Stelle sofort abgesichert, bis die alarmierte Polizei eingetroffen ist. Ich glaube, den Flüchtlingen ist gar nicht bewusst gewesen, wie groß die Gefahr als Fußgänger auf der Autobahn ist“, erzählt der Leiter der Autobahnmeisterei, Martin Kottek. In letzter Zeit sei man immer öfter mit derartigen Fällen konfrontiert. „Es häuft sich“.

Beinahe zur gleichen Zeit wurden an die 80 Flüchtlinge an der S1 bei Schwechat am Straßenrand ihrem Schicksal überlassen, weitere wurden in Fischamend entdeckt. Damit noch nicht genug, irrten in den frühen Morgenstunden elf Pakistani und ein Inder auf der Westbahnstrecke bei Loosdorf auf den Gleisen umher. Die Strecke musste kurze Zeit gesperrt werden. Insgesamt habe es Donnerstagfrüh 244 Aufgriffe in NÖ gegeben, spricht Polizei-Sprecher Johann Baumschlager von einer logistischen Herausforderung für die Exekutive. Die Flüchtlinge mussten auf die vier Asyl-Schwerpunkt-Dienststellen aufgeteilt werden. Die ersten Einvernahmen dauerten Stunden.

Messerattacke

Bereits in der Nacht auf Mittwoch ist es ebenfalls in Niederösterreich zu einer blutigen Fehde zwischen einer Flüchtlingsfamilie und ihrem Schlepper gekommen. Ein 28-jähriger Ungar tauchte kurz vor 3 Uhr Früh blutverschmiert bei einer Tankstelle der S33 bei St. Pölten auf. Zunächst erklärte der Mann der Polizei, dass er von Unbekannten auf der Autobahn überfallen wurde. Die Täter hätten auf ihn eingestochen und anschließend sein Auto geraubt. Der Schwerverletzte wurde ins Krankenhaus eingeliefert.

Im Zuge der Erhebungen entpuppte sich der Mann jedoch als Schlepper. Er hatte den Auftrag, eine vierköpfige Flüchtlingsfamilie nach Passau in Deutschland zu schmuggeln. Als er sie schon bei St. Pölten aussetzen wollte, sollen die Flüchtlinge durchgedreht sein. Einer der Männer soll bei dem Handgemenge mit dem Messer zugestochen haben. Als der verletzte Ungar zu Fuß flüchtete, raste die Familie mit dem Fiat Punto davon. Der Wagen wurde am Donnerstag in Deutschland entdeckt.

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