Missbrauch: "Da wird noch einiges mehr kommen"

Hedwig Wölfl leitet das Kinderschutzzentrum „Die Möwe“
Die Leiterin des Kinderschutzzentrums "Die Möwe" berichtet von vermehrten Anfragen Betroffener.

Es ist etwas in Bewegung gekommen: #MeToo, das Bekanntwerden von Vergewaltigungen im Skisport der 1970er-Jahre durch Nicola Werdenigg oder zuletzt Berichte über brutale Initiationsriten im Internat des Leistungssportzentrums Südstadt bei Wien rund um die Jahrtausendwende – ein ehemaliger Schüler hat am Freitag laut Presse Vorwürfe über nächtliche Schläge als "Einstiegsgeschenk" erhoben.

Opferschutzorganisationen bemerken mittlerweile vermehrt Anfragen von Betroffenen. So auch das Kinderschutzzentrum "Die Möwe". Und das war erst der Anfang, ist Leiterin Hedwig Wölfl überzeugt.

KURIER: Sexueller Missbrauch, auch im Sport, ist seit Monaten ein öffentliches Dauerthema. Was bewirkt diese Diskussion?

Hedwig Wölfl: Interessant ist, dass sich seither auch viele Erwachsene bei uns gemeldet haben, denen in der Kindheit Ähnliches widerfahren ist. Sie wollen wissen, wohin sie sich wenden können, welche Möglichkeiten sie haben. Viele Menschen beschäftigt dieses Thema jetzt. Auch, weil es Zeit braucht, bis Betroffene bereit sind, über ihre Erlebnisse zu reden. Das hat man ja auch bei Nicola Werdenigg gesehen. Da wird in den kommenden Monaten noch einiges mehr kommen.

Werdenigg wurde nach ihrer Aussage auch heftig attackiert.

Was Peter Schröcksnadel (Präsident des Österreichischen Skiverbands, Anm.) da gemacht hat, ist unfassbar und unprofessionell. Solche Aussagen im Jahr 2017 sind erschütternd. Das zeigt die schwerst patriarchalischen Strukturen. Hier wurde nicht einmal davor zurückgescheut, medial einen Gegenangriff zu starten. Aber das ist typisch, wir nennen das Verantwortungsumkehr, man schiebt dem Opfer die Schuld zu. Hut ab vor Werdenigg, die sich trotzdem nicht entmutigen lässt.

Was bringt es, solche Erlebnisse öffentlich zu machen?

Jede Person, die seit #MeToo ihre Geschichte öffentlich erzählt hat, hilft dem Kinderschutz. Das bewirkt mehr, als ständig zu predigen, dass statistisch gesehen in jeder Schulklasse ein bis zwei Kinder sitzen, die sexuell missbraucht wurden. Es veranlasst jetzt auch z. B. Eltern sich zu melden, wenn sie Wahrnehmungen im Graubereich haben. Wenn ihre Kinder zum Beispiel erzählen, dass sie sich nach dem Fußballspielen unter der Dusche gegenseitig anpinkeln.

Anpinkeln?

Ja. Es gibt ganz verschiedene Unkulturen. Eine andere ist das Pastern. Oder die Haare werden abrasiert, oder der Trainer sauft mit den Jugendlichen. Ziel ist es, Zugehörigkeit zu schaffen. Oft rechtfertigen das Trainer damit, dass sie diverse Rituale selbst durchlitten haben und sagen dann: "Für mich war das damals ja auch nicht lustig. Aber das gehört dazu." Andere machen abwertende Bemerkungen über die Oberweite der Mädchen oder sagen Ihnen: "Da hast du dich nicht g’scheit rasiert." Oder wenn der Trainer kontrolliert, ob man sich eh ordentlich duscht.

Wie verbreitet ist das Thema Missbrauch im Sport?

Wir wollen den Sport nicht unter Generalverdacht stellen. Da passiert viel Positives. Aber entsprechende Fälle landen immer wieder bei uns. Quer durch alle Sportarten, aber speziell in Bereichen, wo im Training auch viel Körperkontakt nötig ist, in Zweier-Konstellationen trainiert wird oder wo es geschlossene Gruppen gibt. Etwa im Leistungssport, wo Jugendliche in Internaten untergebracht sind oder gemeinsam von Ort zu Ort reisen. Da herrscht ein großes Wir-Gefühl. Das macht es noch schwieriger, wenn etwas passiert.

Weil man Teil der Gruppe sein will?

Weil Opfer in einen Loyalitätskonflikt geraten. Dann sind Täter vielleicht Personen, die einem geholfen haben, die einen angefeuert haben, die man ja auch mag.

Wann ist das Wort "Opfer" eigentlich zu einem Schimpfwort geworden?

In der Jugendsprache wird "Opfer" mit Schwäche assoziiert. Wir erleben das vor allem in den sozialen Medien. Deshalb ist es wichtig, wenn Opfer wie Frau Nicola Werdenigg zeigen, dass sie eigentlich sehr viel Mut beweisen.

Sie arbeiten eng mit dem Volleyballverband zusammen, seit dort im Frühling bekannt wurde, dass ein Jugendtrainer 57 Mädchen missbraucht haben soll. Funktioniert die Zusammenarbeit?

Der Volleyballverband sollte ein Vorbild für alle sein, wie mit diesem Thema umgegangen werden sollte. Dort wird ja seither auch für ehrenamtliche Trainer ein polizeiliches Führungszeugnis verlangt. Wir machen Schulungen, sind auch Ansprechpartner. So viel Bereitschaft erleben wir nicht immer.

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