"Migranten werden zu Sündenböcken gemacht"

Soziologe Güngör findet die Lage "beschämend".
Gesellschafts-Analytiker Güngör über Bürger-Gehässigkeit, Polit-Fehler und eine neue Art des Terrors.

Wien bietet ab Montag 350 Kriegsflüchtlingen aus Syrien ein Obdach. 250 weitere Vertriebene, großteils Familien, finden in der kommenden Woche in der ehemaligen Wirtschaftsuni (WU) Schutz – auf vier Monate limitiert. Experten prognostizieren bis zu 30.000 Asylwerber bis Jahresende. Doch Ortschefs und Landeshauptleute mauern eisern. Nur sporadisch werden Unterkünfte zur Verfügung gestellt. Obwohl sieben Bundesländer die Aufnahmequoten nicht erfüllen. Wählerstimmen sind eben wichtiger als Menschlichkeit. Der KURIER sprach mit Kenan Güngör, Soziologe mit türkischen Wurzeln. Seit 2007 leitet er das Büro für Gesellschaftsanalyse, Innovation und Integration in Wien. Als Experte für Integrationsfragen war Güngör der Architekt der Integrationsleitbilder von Oberösterreich, Tirol und Vorarlberg sowie der Städte Dornbirn und Amstetten.

KURIER: Woher kommt die Angst der Österreicher vor den Flüchtlingen?

"Migranten werden zu Sündenböcken gemacht"

Kenan Güngör: Es fehlt das politische Statement zur Entkriminalisierung von Flüchtlingen. Zweitens liegt eine widersprüchliche religiöse Situation vor. Die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten laufen vor einem islamistischen Faschismus davon. Das versteht der Österreicher. Parallel dazu will er aber nicht zu viele Moslems im Land.

Menschen in Kommunen mit Asylwerbern kritisieren, dass nur Männer nach Österreich kommen. Stimmt das?

Man muss zwischen Armutsflüchtlingen wie aus Teilen Afrikas und Kriegsflüchtlingen etwa aus Syrien unterscheiden. Bei der ersten Gruppe sind es eher junge, starke Männer. Kriegsflüchtlinge sind in Familienverbänden unterwegs.

Spielt die Situation im Land – nämlich weniger Geld im Börserl der Bürger – eine Rolle betreffend Solidarität und Hilfsbereitschaft?

Österreich ist ein reiches Land. Daher ist es keine Frage des Geldes, sondern eine Frage des Wollens. Migranten werden in schlechteren Zeiten immer zu Sündenböcken gemacht. Auch jetzt. Die Situation ist beschämend.

Nach und auch während des Bosnien-Krieges nahm Österreich in der Spitze 90.000 Asylwerber auf. Die Solidarität war spürbar und ehrlich. Worin unterscheidet sich die jetzige Situation von 1992 bis 1994?

Während der Jugoslawien-Krise fand der Krieg quasi vor der Haustüre statt. Viele waren damals beim Nachbarn auf Urlaub. Die Hilfsbereitschaft ist da näher. Man hatte, wenn man so will, einen gemeinsamen Gegner. Das war auch bei den Flüchtlingswellen aus Ungarn und der Tschechoslowakei so.

Obwohl das Leid jetzt – aus dem Blickwinkel der Vertreibung – in den Kriegsgebieten ident ist, fehlt die Hilfe. Warum?Das ist auch eine Folge der Bosnien-Problematik. Es gab damals eine massive Belastung der Kommunen. Zu dieser Zeit entstand eine gewisse verbale Gehässigkeit. Und rechtsradikale Strömungen haben das ausgenutzt. Durch den erbarmungslosen IS-Terror gibt es zwar eine leichte Aufweichung der Gehässigkeit, Umschwung sehe ich jedoch noch keinen.

Halten Sie die Zahl von bis zu 30.000 Flüchtlingen in Österreich bis Jahresende für realistisch? Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser sprach Mitte der Woche von dieser Größenordnung.

Das ist nicht genau abzuschätzen. Es kommt darauf an, wie sich die angespannte Situation im Grenzgebiet Türkei/Syrien entwickelt.

Hat die Politik, auch in Österreich die Situation unterschätzt? Der Auslöser dieser humanitären Katastrophe, die IS-Terror-Milizen, wurden international ja viel zu spät richtig analysiert ...

Viele Entscheidungsträger haben geglaubt, dass nach den Veränderungen wie etwa in Ägypten und Libyen auch in Syrien schnell neue Polit-Strukturen entstehen. Da hat man sich verschätzt. Auch die folgende Radikalisierung und die so entstandene Kluft zwischen den ethnischen Gruppen wurden unterschätzt. Jetzt dreht sich die Gewaltspirale, ähnlich wie bei Israelis und Palästinensern.

Kann sich der Terror, in Form von Anschlägen auch nach Österreich ausdehnen?

Das Problem sind nicht die Flüchtlinge, sondern die Dschihad-Kämpfer. Ich befürchte, dass es eine neue Spielart im Terrorismus geben wird. Etwa ein Messerattentat, gegen ein ausgewähltes Opfer auf der Mariahilfer Straße. Siehe auch den Anschlag im Jüdischen Museum von Brüssel am 1. Juni mit drei Toten. Der Täter hat im Dschihad in Syrien gekämpft. Es reichen wenige entschlossene Radikale. Da braucht es keine Bomben.

Wären Zeltlager für Flüchtlinge, wie in Deutschland, ein Schandfleck für Österreichs humanitäre Tradition?

Schafft die Politik keine menschenwürdige Lösung, sind Zeltstädte als Übergangslösung zwar nicht schön, aber unumgänglich. Und es kommt der Winter. Daher sollten die Verantwortlichen die Variante von Container-Dörfern überdenken. Die Ressourcen gibt es.

Sollte, wie von den Landeshauptleuten angeregt, der Arbeitsmarkt für Asylwerber geöffnet werden?

Unbedingt. Sonst werden aktive Menschen zur Passivität gezwungen. Vergessen Sie nicht: Eine Flucht von Tausenden Kilometern erfordert Planung und Kraft. Kriegsflüchtlinge sind hochgradig aktiv. Auch könnten sie für die Grundversorgung etwas beitragen. Das Wichtigste jedoch ist das gewonnene Selbstwertgefühl und ein geordneter Tagesablauf.

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