Etikettenschwindel im Gefängnis

Etikettenschwindel im Gefängnis
Geistig abnorme Täter sitzen ohne Behandlung im normalen Strafvollzug

Seit 1. Juli vorigen Jahres ist die Volksanwaltschaft auch für den Schutz der Menschenrechte zuständig und prüft durch unangemeldete Besuche eigens eingerichteter Kommissionen die Zustände in den Justizanstalten. Der erste von Volksanwältin Gertrude Brinek (ÖVP) aufgedeckte Missstand betrifft den sogenannten Maßnahmenvollzug: Die Zahl der für geistig abnorm erklärten Rechtsbrecher, die wegen ihrer Gefährlichkeit (parallel zur Strafe) zur unbefristeten Einweisung mit Therapie in eine Anstalt verurteilt werden, steigt ständig (siehe Grafik rechts). Und weil die einzige speziell dafür eingerichtete Justizanstalt Wien-Mittersteig den Andrang längst nicht mehr bewältigen kann, sitzen diese Verurteilten dann Monate lang in ganz gewöhnlichen Gefängnissen.

Etikettenschwindel im Gefängnis
„Sie werden dort nur betreut, aber nicht behandelt“, sagt Albert Holzbauer, ein profunder Kenner des Maßnahmenvollzuges. Er ist Sozialarbeiter in Garsten, einer jener Strafanstalten (neben Stein und Karlau), in denen „normale“ und geistig abnorme Häftlinge nebeneinander sitzen. Der Unterschied ist oft nur durch das Türtaferl erkennbar. Für Brinek ist das Etikettenschwindel.

Noch gefährlicher

„Man sagt, sie sind gestört, aber das ist eine Krankheit“, sagt Holzbauer. Ohne Therapie werden sie noch gefährlicher und kommen deshalb auch Jahre nach ihrem Strafende nicht frei.

Die frühere Rechtsanwältin Katharina Rueprecht und der Rechtsprofessor Bernd-Christian Funk schildern in ihrem Buch „Staatsgewalt“ (Molden) den Fall Bernhard K., der wegen gefährlicher Drohung zu sechs Monaten verurteilt worden war, aus denen am Ende zehn Jahre wurden. Er hatte sich gegen die Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka gewehrt, was man ihm als mangelnde Compliance (Krankheitseinsicht) auslegte.

Kein Einzelfall. Immer mehr Menschen rasten aus geringstem Anlass aus, immer weniger in ihrem Umfeld können das erdulden, das Sicherheitsbedürfnis wird höher, die Gerichte greifen vermehrt zur Einweisung. Und zwar nicht nur bei gut begründeter Gefährlichkeit, wie sie etwa von der früheren Eissalon-Betreiberin Estibaliz Carranza ausgeht, die zwei Männer zerstückelt hat. Sondern immer öfter auch bei Diebstählen und sonstigen Alltagsdelikten (schon 25 Prozent aller Fälle), bei denen nur beschränkte Haftstrafen möglich sind. Der langjährige ärztliche Leiter der Sonderanstalt Mittersteig, Patrick Frottier, vermisst in diesen Fällen die psychiatrisch erklärbare Notwendigkeit. Trotzdem wird als zusätzliche Barriere zur absehbaren Freiheit die Einweisung ausgesprochen.

„Ein Flaschenhals“, sagt Volksanwältin Brinek, „am Ende kommen weniger heraus, als vorne schon wieder hineinkommen.“ Weil sich die Justiz nicht so viele Therapeuten leisten kann, werden die Verurteilten entweder gar nicht oder mit Medikamenten behandelt, statt sich mit ihnen (in Gruppen- oder Einzeltherapie) auseinander zu setzen. Bei vielen baut sich innerer Widerstand dagegen auf, womit sie sich selbst um die Chance einer „Heilung“ und der Entlassung bringen.

Unmenschlich

Etikettenschwindel im Gefängnis
Gertrude Brinek sieht in dem System – „bist du nicht willig, bleibst du da“ – eine unmenschliche Behandlung. Der Insasse hat keine Patientenrechte, die ihm Widerspruch gegen eine bestimmte Therapie erlauben. Brinek vermisst auch eine übergeordnete Stelle, die Sinnhaftigkeit und Erfolg der Maßnahme überprüft: „Bei allem Verständnis für die oft am Limit arbeitenden Betreuer in den Anstalten, aber wenn ein Magengeschwür nicht rechtzeitig erkannt wird, muss operiert werden.“ Das könne man dem Insassen und der Gesellschaft ersparen.

So werden aus drei Jahren Haft am Ende 18 Jahre

Wenige Länder kennen das österreichische Spezifikum der zwar zurechnungsfähigen, aber geistig abnormen (§ 21,2) Täter. Der Verurteilte kennt nur seine Strafe (in der Zeit sollte er bereits therapiert werden), ohne den tatsächlichen Zeitpunkt seiner Entlassung abschätzen zu können. Kritiker sehen darin die in Deutschland mittlerweile verpönte Sicherheitsverwahrung.

Früher wurde die Einweisung hauptsächlich in schweren Fällen zusätzlich zu hohen Strafen ausgesprochen. Inzwischen hängen sie die Richter – gerne bei „Gewohnheitsverbrechern“ – auch schon an Strafen bis zu einem Jahr Haft an. Schätzen Gutachter den Betreffenden nach dem Strafende immer noch für gefährlich ein, bleibt er in weiter Haft.

So dauern z. B. zwei Monate, zu denen jemand verurteilt wurde, 5,9 Jahre. Aus 284 Tagen wurden 4,7 Jahre, zwei Jahren zogen sich 6,1 Jahre in die Länge und drei Jahre waren gar erst nach 18 Jahren zu Ende.

Kommentare