Amokfahrt: "War es ein Blutrausch?"

Zwei Gutachter halten Alen R. für schizophren, einer nicht
Die Gutachter sind im Prozess uneins über Alen R.s Geisteszustand. Am Donnerstag entscheiden die Geschworenen.

Jürgen Müller sitzt seitlich links im Gerichtssaal, Manfred Walzl rechts. Genauso weit wie ihre Plätze klaffen auch ihre Gutachten auseinander.

Der deutsche Psychiater Müller hält Alen R. für unzurechnungsfähig: Der 27-Jährige erfülle alle Kriterien der Schizophrenie. "Zum Zeitpunkt der Tat war das ein akuter Wahn. Er war nicht imstande, aus seinem Wahnsystem auszubrechen, er war gefangen", analysiert Müller.

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Ein Schuss, den nur R. gehört haben will. Verfolger, die nur R. gesehen habe. Und das Gefühl, nur bei der Polizei sicher zu sein: Das seien die drei "Wahnideen", die grundlegend für seine Diagnose waren, führt Müller am siebenten Prozesstag aus. Auch der zweite Grazer Experte, Peter Hofmann, attestierte Unzurechnungsfähigkeit.

Müllers Expertise als Obergutachter gab jedoch den Ausschlag, dass R. nicht wegen Mordes angeklagt wurde. Weil zwei Gutachter Unzurechnungsfähigkeit diagnostizierten, beantragte die Staatsanwaltschaft die Einweisung in eine Anstalt.

In die Knie gezwungen

Doch Psychologin Anita Raiger bescheinigt R. eine "überdurchschnittliche Intelligenz". Immer wieder haken Richter und Opferanwälte deshalb nach, ob R. ihnen allen nicht einfach nur etwas vormache. "Kann es sein, dass er alles nur spielt? Kann es sein, dass es ein Blutrausch war?" Stakkatoartig prasseln Richter Andreas Roms Fragen auf den deutschen Sachverständigen nieder. "Kann es sein, dass das gezielt war und er zeigen wollte, Graz, ich kann dich in die Knie zwingen?"

Doch Müller bleibt konsequent bei seiner Einschätzung. "Es war ein wahnhafter, psychotischer Realitätsverlust. Es ist in ihm explodiert." Das sei nicht spielbar. Er müsse den Angaben des Betroffenen glauben, erläutert Müller. Etwa die Sache mit dem Schuss, den R. am 20. Juni gehört und der die "akute Psychose" ausgelöst habe. Rom ätzt, wenn er als Strafrichter alles glauben würde, "hätten wir hier 90 Prozent Freisprüche".

Drei Stunden später führt Manfred Walzl sein völlig konträres Gutachten aus. Eine "Persönlichkeitsstörung" mit wahnhaften Ideen habe R. sehr wohl, bestätigt auch er. Aber das reiche nicht für eine Unzurechnungsfähigkeit und sei weit entfernt von Schizophrenie. "Bei Schizophrenie verschmilzt man mit der Umwelt. Da spricht ein Baum, Vögel geben Zeichen", erläutert Walzl. Bei einer Persönlichkeitsstörung komme Wahn aber erst nach einer Tat als Rechtfertigung zu Tragen.

Angetrieben von Hass

Ohne Mitgefühl für andere, selbstmitleidig, hilflos, aber dennoch impulsiv und zornig: So beschreibt Walzl den 27-Jährigen. "Amoktäter versuchen, aus ihrer menschenverachtenden Einstellung heraus ihren darniederliegenden Selbstwert durch eine extreme Gewalttat wieder herzustellen", überlegt er. Hass und Wut auf die Gesellschaft treibe sie an. "Das vereint sich oft mit dem Wunsch, Bedeutung und Berühmtheit zu erlangen." Walzl erinnert an die Äußerungen kurz nach der Amokfahrt: "Wie ein Hund" sei er behandelt worden, schimpfte R. bei der Polizei. "Der Amoklauf war für ihn der letzte Versuch, Macht und Männlichkeit zu demonstrieren", betont Walzl.

Drei Gutachter, zwei Meinungen. Das macht es den Geschworenen nicht leicht: Sie werden am Donnerstag entscheiden. Folgen sie dem Antrag der Staatsanwaltschaft, wird R. in die Anstalt eingewiesen. Halten sie R. jedoch für zurechnungsfähig, geht das Verfahren zurück an den Start: Verdacht auf dreifachen Mord und 108-fachen Mordversuch. Dann wäre eine Verurteilung möglich samt Strafe.

Eine krasse Fehleinschätzung ist im heurigen Frühjahr einem Wiener Strafrichter unterlaufen. Er sah keinen Grund, einen 27-jährigen Mann, der telefonisch die Sprengung des Bahnhofs Meidling angekündigt hatte, in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen. Der Richter hielt den Mann für wirr, aber harmlos.

Nur wenige Minuten nach der Verhandlung eilte der Mann in eine Telefonzelle und drohte neuerlich mit einem Bombenanschlag. In weiterer Folge griff der seit Kindesbeinen psychisch auffällige Mann immer öfter zum Hörer, drohte mit der Sprengung der Telekom-Zentrale, der Telefonseelsorge der Erzdiözese Wien und des ÖAMTC durch Dynamit.

Mittwoch stand die nächste Verhandlung auf dem Programm. Derselbe Gutachter, der den 27-Jährigen im April noch als psychisch krank, aber zurechnungsfähig eingestuft hatte – den damaligen Richter hatte diese Einschätzung nicht überzeugt –, bescheinigte diesem nun Unzurechnungsfähigkeit. Auf Basis dessen beantragte die Staatsanwaltschaft die Unterbringung des Mannes in einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher, während sie im April noch seine Bestrafung verlangt hatte.

Der 27-Jährige kicherte vor sich hin, gestikulierte mit abgespreizten Fingern durch die Luft. Auf die Frage, warum er mit Bomben gedroht hätte, meinte er: "Weil mich die Leute immer beschimpfen. Arschloch sagen sie zu mir und Blödmann."

Auch die neue Richterin will den Mann nicht in eine Anstalt einweisen, sondern eine Betreuungseinrichtung für ihn finden. Es wurde vertagt.

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