600 Häfenvisiten ohne Ankündigung

Über 70 Einrichtungen, in denen Menschen freiheitsentziehenden Maßnahmen ausgesetzt sind, wurden bereits bis in den hintersten Winkel kontrolliert.
Experten decken Menschenrechtsverletzungen wie Überwachung am WC auf.

Sagt da jemand „du“ zu einem Häftling? Auch das bekommen die Kommissionen bei ihren Kontrollgängen mit. Mit „Herr“ oder „Frau“ angesprochen zu werden, auch hinter Gittern, ist ein Menschenrecht (außer man hat es sich ausgemacht und der Justizler darf ebenfalls geduzt werden).

Am 1. Juli 2012 haben sechs Kommissionen der Volksanwaltschaft damit begonnen, 4000 Einrichtungen zu überprüfen, in denen Menschen mit und ohne Behinderung freiheitsentziehenden Maßnahmen ausgesetzt sind: Justizanstalten, Psychiatrien, Polizeianhaltezentren, Altenheime, Kasernen. Auch Abschiebungen von Flüchtlingen werden kontrolliert, ebenso Demonstrationen, bei denen mit Festnahmen zu rechnen ist.

Überraschend

Die Kommissionen sind aus insgesamt 24 nebenberuflich tätigen Menschenrechtsexperten, Ärzten, Juristen, Sozialarbeitern, Seelsorgern zusammengesetzt. Bis jetzt gab es bereits 600 Kontrollen in über 70 Einrichtungen. Eine Visite dauert zwischen einigen Stunden und ein paar Tagen. Sie erfolgt meist unangekündigt. Manchmal abends, wenn alles auf stand-by geschaltet ist. Und am nächsten Morgen – nur nicht in Sicherheit wiegen – sind die Prüfer schon wieder da. Sie dürfen ihre Nasen überall hineinstecken, haben sich oft vorher Pläne organisiert: Und was ist hinter dieser Tür?

Zum Beispiel die gefürchtete Absonderungszelle für renitente Häftlinge. Sie entspricht nicht mehr dem Standard, kein abgetrenntes WC, nur ein Kübel mitten im fensterlosen Raum. Doch es stellt sich heraus, dass die Absonderungszelle in dieser Haftanstalt und vielen anderen gar nicht mehr benützt wird.

Peter Kastner, OPCAT-Beauftragter (EU-Übereinkommen gegen Folter und erniedrigende Behandlung) der Volksanwaltschaft, zieht für den KURIER Zwischenbilanz: Die Beanstandungen reichen von dunklen Gängen und zu seltenen Badegelegenheiten in Altenheimen bis zur Kamera-Überwachung von Häftlingen auf der Toilette. Oder den geschulten Kommissionsmitgliedern fällt in einer Justizanstalt ein leicht zugängliches Fensterkreuz auf, das einen Suizid ermöglicht.

Misshandlungen im klassischen Sinn wurden bisher nicht berichtet. „Aber es kann auch eine Misshandlung sein, eine Eisentür mehrmals zuzuschlagen“, sagt Kastner.

Ein Mitglied der vom Psychiater Ernst Berger geleiteten Wiener Kommission ist die Gerichtsmedizinerin Andrea Berzlanovich. Sie warnt schon seit Jahren davor, mit Fixierungen von Insassen in Heimen leichtfertig umzugehen. Sie werden oft rund um die Uhr praktiziert, damit das Personal Ruhe hat, was unmenschlich und gefährlich ist. Bettgitter und Gurte führen nicht selten Strangulationen herbei. In der Psychiatrie und in Altenheimen in Wien und in der Steiermark werden nach wie vor Netzbetten eingesetzt.

Ein wunder Punkt in Justizanstalten betrifft die häufige Abwesenheit eines Arztes während der Nacht oder am Wochenende. Es wurde auch festgestellt, dass Psychopharmaka in großem Ausmaß verordnet werden, obwohl der Grund dafür aus den jeweiligen Diagnosen nicht hervorgeht.

Jugendhaft

Unter besonderer Überwachung steht – speziell seit der Vergewaltigung eines 14-Jährigen durch Mithäftlinge – die Justizanstalt Josefstadt, in der Erwachsene und Jugendliche zusammengepfercht sind. Erste Maßnahme: Die Hafträume sind nur noch mit zwei Gefangenen belegt, davor gab es bis zu Sechs-Mann-Zellen.

Kommentare