Gerhard Jelinek: "Eine unglaublich moderne Zeit"

Gerhard Jelinek beschreibt in seinem Buch "Schöne Tage 1914" die Unbeschwertheit und Modernität der Zeit.
Der Journalist Gerhard Jelinek über die Monate vor dem Kulturbruch des Ersten Weltkriegs.

Gerhard Jelinek (59) ist ORF-Journalist und Autor des Buches Schöne Tage 1914. Vom Neujahrstag bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges (Verlag Amalthea, 22,95 Euro). Er liest daraus beim Welttag des Buches am kommenden Mittwoch, 23. April, um 20 Uhr im ORF-Landesstudio (Linz-Europaplatz).

KURIER: Altlandeshauptmann Josef Ratzenböck meint, das, was sich in der Ukraine abspiele, erinnere ihn an den Beginn vieler Kriege. Gibt es hier Parallelen zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren, als auch alle vom Krieg überrascht wurden?

Gerhard Jelinek: Das Ganze ist gespenstisch. Wenn wir vor 100 Jahren an einem Wirtshaustisch zusammengesessen wären, hätten wir wahrscheinlich gesagt, irgendwo am Balkan, in Albanien, gibt es irgendwelche griechischen Freischärler. Der Staat Albanien war damals eine österreichische Erfindung. Auch damals hat niemand geglaubt, dass das ein ernsthafter Krieg werden würde. Wir nehmen heute die Auseinandersetzungen in der Ukraine auch nicht ernst. Man kann keine Parallelen ziehen und daraus wird auch kein Weltkrieg. Das Gleiche hätten sie vor 100 Jahren auch gesagt. Wenn sie das gewusst hätten, hätten sie reagiert und etwas anderes gemacht. Man ist traumwandlerisch in eine Situation hineingerutscht, die keiner wollte. Niemand außer ein paar Generälen und außer Österreich wollte einen großen Krieg entfachen.

Man hat aber gewusst, dass es durch den Krieg gegen Serbien auch zu einem Krieg gegen Russland kommt.

Das hat man ganz sicher gewusst, Österreich hat das bewusst in Kauf genommen. Das war sogar gewünscht, denn sonst hätte es das so nicht betrieben. Das war ja der Wahnsinn, dass man durch die Geschichte mit Serbien sehenden Auges in eine Konfrontation mit Russland gegangen ist.

Welche Konsequenzen sollte man daraus ziehen?

Die wichtigste Konsequenz ist mit der Gründung der europäischen Union gezogen worden. Mit der Vergemeinschaftung von Kohle, Stahl und Rüstungsindustrie. Diese Form des Krieges zwischen den großen europäischen Nationen ist heute jedenfalls in dieser Form nicht mehr denkbar. Heute haben wir die längste Friedensperiode in Europa. Damals sind die Männer 1914 in den Ersten Weltkrieg und 25 Jahre später in den Zweiten Weltkrieg eingerückt.

Sie haben bereits mehrere Bücher geschrieben. Was war für Sie das Motiv, sich nun mit diesem Thema zu beschäftigen?

Mich beschäftigte die Frage, haben die Leute das damals gewusst, hätten sie das wissen können, hat man das spüren können, wenn man hellhörig gewesen wäre? Aus dem Rückblick kann man schon einen Blick und ein Mosaik gewinnen, dass es absehbar war. Aus heutiger Sicht muss man sagen, dass der Krieg nicht unvermeidbar war, sondern eine unglaubliche Anzahl von Zufällen und Weichenstellungen, die auch in eine andere Richtung hätten gehen können.

Es waren doch bestimmte Kreise, die den Krieg gewollt haben.

Aber das hätte alles nichts genützt, wenn zum Beispiel Thronfolger Franz Ferdinand nicht dort stehen geblieben wäre, wo er stehen geblieben ist. Am Sankt-Veits-Tag nach Sarajewo zu fahren, war sowieso eine verrückte Aktion. Er war am Tag vorher mit seiner Frau am Markt einkaufen. Ohne Bewachung. Es ist nichts passiert, das hat niemanden gestört. Wenn er nicht erschossen worden wäre, hätte es mit Sicherheit keinen Weltkrieg gegeben. Dann wäre Kaiser Franz Josef vielleicht gestorben, der ja im Frühjahr 1914 schwer krank war. Franz Ferdinand hätte wegen Serbien keinen Krieg geführt. Es gibt eine ganze Reihe von Entscheidungen, bei denen man sich fragt, warum ist das nicht in die andere Richtung gegangen. Am 31. Juli wurde auch noch der französische Sozialistenführer Jean Jaurès in einem Pariser Café von einem Nationalisten ermordet. Er war ein erklärter Pazifist, der den Krieg unbedingt verhindern wollte. Man bekommt heute noch die Gänsehaut, wenn man daran denkt, was alles schiefgelaufen ist.

Was haben Sie selbst gelernt?

Dass das eine unglaublich moderne Zeit war. Es war eine Zeit von ungebrochenem Fortschrittsdenken. Alle Leute haben gestöhnt unter der unglaublichen Beschleunigung. Es gab Eisenbahnen, Autorennen, Flugzeuge. Jeden Tag gab es neue Rekorde. Der Fortschrittsglaube war ungebrochen. Niemand redete vom Klimawandel. Jeden Tag gab es neue Entdeckungen in der Industrie, Wissenschaft und Kunst. Es gab Klimt, Schiele und den Expressionismus. Es war eine spannende Zeit, die nur vorwärts gerichtet war.

Baron Albert Salomon Anselm von Rothschild war damals der reichste Mann Europas. Wie der Linzer Wirtschaftswissenschaftler Roman Sandgruber vorrechnet, versteuerte er mehr als die gesamte Hofhaltung des Habsburger Herrscherhauses inklusive aller Apanagen und Extravaganzen kostete. Rothschild hat an seine weit verzweigte Familie in Europa einen Brief geschrieben, in dem er meinte, es werde mit Sicherheit kein Krieg kommen. Drei Tage später war es so weit. Man müsste meinen, wenn jemand etwas gewusst hat, dann sollte es aufgrund seiner internationalen Kontakte Rothschild gewesen sein.

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