"Wut fördert die Lebendigkeit"

„Eine Emotion zu empfinden heisst noch lange nicht, sie in massiver Formzum Ausdruck zu bringen. Emotion und ihr Ausdruck sind zwei verschiedene Dinge“: Adelheid Kastner.
Die Psychiaterin hat ein Buch über "Wut – Plädoyer für ein verpöntes Gefühl" geschrieben.

Adelheid Kastner ist Psychiaterin. Die Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie ist Chefärztin der Forensischen Abteilung der Landes-Nervenklinik Wagner Jauregg. Die 52-Jährige war als Gerichtsgutachterin im Fall Fritzl und der Causa Kremsmünster tätig. Soeben ist im Verlag Kremayr & Scheriau ihr Buch Wut – Plädoyer für einverpöntes Gefühl erschienen. Weitere Bücher: Täter Väter: Väter als Täter am eigenen Kind (2009) und Schuldhaft: Täter und ihre Innenwelten (2012).

KURIER: Sie plädieren für Wut. Wut und Zorn sind aber negativ besetzt, sie gelten als Undiszipliniertheiten.Adelheid Kastner: Es ist untauglich, sich ein Gefühl, das zur Ausstattung des Menschen gehört, abgewöhnen zu wollen. Es ist eine Basisemotion. Es wird nichts daran ändern, dass man es empfindet. Wut nicht empfinden zu dürfen wäre so ähnlich, als würde man Freude nicht mehr empfinden dürfte.

Warum ist Wut in unserer Kultur so verpönt?

Weil sie unangenehm ist und die Emotion mit Aggression gleichsetzt. Die Emotion und ihr Ausdruck sind zwei Dinge. Eine Emotion zu empfinden heißt noch lange nicht, sie in massiver Form zum Ausdruck zu bringen. Zwischen dem Empfinden und ihrem Ausagieren kann man sich ja etwas überlegen.

Aber die Menschen haben sich vielfach nicht unter Kontrolle.

Oh ja, an sich schon. Das ist eine Frage des Trainings, wie man mit den Emotionen umgeht. Zuerst eine Frage der Erziehung und nachher eine Frage des Gelernthabens. Den Umgang mit Emotionen kann man lernen. Man muss sich disziplinieren, aber davor muss man die Emotionen überhaupt wahrnehmen. Sich hinzustellen und zu sagen, ich habe nie Wut, oder zu sagen, natürlich hab e ich Wut und dann muss ich mir überlegen, was ich damit tue, das sind unterschiedliche Dinge. Ich bin dagegen, Wut zu tabuisieren.

Wenn man zornig ist, platzen Worte und Sätze heraus, die man sonst nicht sagen würde und mit denen man die anderen verletzt.

Das kann sein, sollte aber nicht den Weltuntergang bedeuten. Ich plädiere dafür, dass man wütend sein darf und das auch wahrnehmen soll. Das ist für mich eine wesentliche Rückmeldung und Information. Irgendetwas geht mir fürchterlich gegen den Strich und überschreitet meine Toleranzgrenzen. Dann sollte man sich überlegen, was man damit macht. Es kann durchaus sinnvoll sein zu sagen, so geht es jetzt nicht mehr. Das gibt dem anderen die Möglichkeit, selbst zu überlegen, ob er nicht zu weit geht.

In den diversen Religionen sind Zorn und Wut weitgehend negativ besetzt.

In der katholischen Ausformung ist fast jedes Gefühl negativ besetzt. Die Liebe zu Gott ist das wirklich einzig zulässige Gefühl. Vielleicht noch Mitleid und Barmherzigkeit. Das ist aber eine Handlung und kein Gefühl. Aber alles, was heftig emotional ist, ist problematisch.

Im Buddhismus übt man sich in Gelassenheit, aber die tun auch etwas dafür. Wenn buddhistische Mönche diesen Zustand nach Jahrzehnten der Meditation erreicht haben, ist das schön, aber das ist nichts, was unsereiner schnell nebenbei einmal mitnehmen kann.

Was war Ihre Motivation für das Buch?

Es hat mich geärgert, dass man so tut, als ob die Wut gar nicht dazugehört. Es fällt mir schon länger auf,dass vieles von dem, was man klarer sagen könnte, von einem Wust an psychologisierender Sprache verdeckt wird.

Gibt es eine Unterscheidung zwischen Wut und Zorn?

Diese Unterscheidung hat schon mehrere interessiert. Das ist eher eine gefühlte als eine klar definierte. Es gibt Definitionen, die meinen, beim Zorn gehe es eher um die große Sache, um das große Unrecht. Der Zorn als heilige und gerechte Sache. Der Zorn ist dann eine solidere, längere Emotion, die sich nicht gegen eine persönliche Kränkung, sondern gegen ein meine Belange übersteigendes Unrecht richtet. Wut ist etwas sehr Intimes, sie betrifft mich.

Sie zielen darauf ab, Leben zu ermöglichen.

Es geht darum, lebendig zu bleiben, was heißt, dass Veränderung möglich sein muss. Wut kann ein Motivator für Veränderungen und damit ein Faktor der Lebendigkeit sein. Wenn ich die Wut wahrnehme, fordert sie mich auf, etwas zu tun. Wut fördert die Lebendigkeit. Die Wut ist eine Ressource, die wir haben, um unsere Lebensbedingungen zu verbessern, um mitzubekommen, wo passt etwas nicht. Um zu bemerken, wo muss ich bei mir etwas verändern. Um zu überlegen, vielleicht bin ich zu selbstgerecht und sehe das zu einseitig. Es geht um Lebendigkeit und Entwicklung.Wenn ich aber sage, ich habe keine Wut, dann werde erstarren in dem, was ist, denn dann habe ich keinen Grund, etwas zu verändern. Erstarrung geht gegen das Prinzip der Lebendigkeit. Alles Leben ist Veränderung.

Haben Sie zu wenig Arbeit, sodass Sie noch Zeit zum Schreiben finden?

Nein, das Schreiben ist lustig, denn das ist etwas ganz anderes als Gutachten zu erstellen, wo nur die Fakten zählen und ich mich mit Distanz ausdrücken muss. Im Buch kann ich ganz offen und klar meine Meinung ausdrücken. Ich muss sie nicht mit Fakten belegen. Das ist spannend. Ich habe mit dem Laptop auch abends im Bett geschrieben. Auf diese Weise sind zwei bis drei Kapitel entstanden.

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