"Wir sind keine Randgruppe"

Laufend im Gespräch: Rennrollstuhlfahrer Thomas Geierspichler im Interview über Schicksal, Ziele, Olympia und Gott.

Seit 14 Jahren ist Thomas Geierspichler nach einem Autounfall vom fünften Halswirbel abwärts gelähmt. Der 32-jährige Salzburger fiel in ein Loch – und kämpfte sich drei Jahre später zurück ins Leben. Bei den Paralympics 2004 in Athen gewann er fünf Medaillen, darunter Gold über 1500 Meter.

KURIER: Vergangenes Wochenende hast du am Marathon in Padua teilgenommen. Warum nicht in Wien?
Thomas Geierspichler: Weil man in Wien keine Rollstuhlfahrer dabei haben will.

Wie ist es dir in Italien ergangen?

Erstaunlich gut. Obwohl ich mich heuer auf Grund der Spiele in Peking eher auf die kürzeren Distanzen 200 m, 400 m und 800 m vorbereitet habe, bin ich auf 40 Sekunden an meinen Weltrekord herangekommen.

In Peking bist du sowohl über die kurzen Distanzen als auch im Marathon einer der Favoriten. Wie geht das?
Wir sind nicht mit den Läufern, eher mit den Radfahrern vergleichbar. Wir haben keine Stoßbelastungen und können auch im Windschatten Kräfte sparen.

Wieviel trainierst du?
An die 400 bis 500 Kilometer pro Woche.

Welche Muskeln kannst du trainieren?
Ich bin ab dem 5. bzw. 6. Halswirbel gelähmt. Ich kann die Arme benutzen, jedoch die Finger nicht ganz ausstrecken. Den Puls bringe ich nicht höher als 150 Schläge pro Minute hinauf. Ich habe keine Rumpfmuskulatur.

Ist das eine blöde Frage, wenn ich dich frage, ob du die Müdigkeit dennoch auch in den Beinen spürst?
Wenn ich meine Beine berühre, so fühle ich diese Berührung. Die Müdigkeit fühle ich nicht direkt, aber das Laktat geht sicher auch durch die Beine. Ich bin dann so müde, dass mich alles nervt. Oft ist mir zum Weinen zumute.

Wie lange brauchst du, um dich zu erholen?
Ich regeneriere sicher langsamer als nicht behinderte Sportler. Das ist auch interessant für Sportwissenschaftler. Ich habe gelernt, viel auf mein Gefühl zu vertrauen. Wobei es wichtig ist, Müdigkeit von Faulheit zu unterscheiden.

Du stehst in Einsatz und Erfolgen vielen österreichischen Spitzensportlern um nichts nach. Dennoch bekommst du weniger mediale Aufmerksamkeit.
Natürlich ärgere ich mich, wenn ich Weltmeister werde und das im Sportteil nur in den Kurzmeldungen steht. Ohne Bild. Und außerdem sehen viele meinen Sport nur als Bewegungstherapie und sagen: "Soll der halt eine Freude mit einer Medaille haben." Das ist arg. Und dann sagen die Leute auch noch, sie finden das toll, was ich mache, um ihr soziales Gewissen zu beruhigen. Das will ich nicht. Wir sind keine Randgruppe.

Als Olympiasieger haben dich die wenigsten wahrgenommen. Trägt die Trennung Olympische und Paralympische Spiele schuld daran? Sollte man diese Spiele zusammenlegen?
Das würde den zeitlichen Rahmen sprengen. Oder man würde die verschiedenen Klassen der Behinderungen auf eine Klasse reduzieren. Dann würde es pro Disziplin nur einen Sieger geben. Das wäre eine Fehlentwicklung. Der, dem nur eine Zehe fehlt, wäre wieder bevorteilt. Sportlern mit schweren Behinderungen würde man die
Zukunftsperspektive nehmen. Ich würde mir wünschen, dass man beginnt, den Behindertensport wie eine Sportart zu sehen. Ein Ruderer braucht eben ein Ruderboot und mein Sportgerät ist ein Rollstuhl.

Die beinamputierte Schwimmerin Natalie Du Toit, schaffte gestern die Qualifikation für Peking. Ihr Landsmann Gregory Pistorius kam ohne Unterschenkel zur Welt, läuft mit Beinprothesen tolle 400-m-Zeiten. Er fordert ebenfalls die Teilnahme an den Spielen.
Jede Behinderung ist eine Gratwanderung. Das klingt jetzt arg, aber wenn er durch seine Behinderung im Wettkampf mit nicht Behinderten einen Vorteil hätte, wäre das nicht fair. Ich möchte im Sport keinen Vorteil geschenkt bekommen, weil ich es im Leben schwerer habe.

Denkt man manchmal, wenn man Gleichgesinnte trifft, den hat es besser erwischt als mich, oder interessiert man sich nicht dafür?
Mich interessiert das nicht, welche Amputation der eine oder andere Rollstuhlfahrer hat. Jede Behinderung ist ein Schicksalsschlag. Da wertet man nicht. Dieser Gedanke ist komplett für die Fisch’. Der andere muss doch mit seinem Leben genauso kämpfen und zu Recht kommen. Für eine Tussi ist vielleicht ein abgebrochener Fingernagel auch ein großes Problem.

Was bestärkt dich in schwierigen Phasen?
Ich möchte als 90-Jähriger im Sterbebett liegen und mir keinen Vorwurf machen, etwas nicht gemacht zu haben. Mein Traum hat mit dem Sturz von Hermann Maier in Nagano 1998 begonnen. Da habe ich gedacht, er ist jetzt einer von uns oder gar tot. Und dann gewinnt er Gold. Da habe ich bemerkt, wie Gott arbeitet. Die Bundeshymne bei der Siegerehrung hat mich derart berührt, dass ich weinen musste. Ich habe mich geschämt und weggeschaut, dass meine Eltern das nicht mitbekommen. Aber dieser Moment hat mich motiviert. Ich wollte so eine Siegerehrung selbst erleben. Ich habe das meiner Mutter gesagt – und die hat mir nur den Vogel gedeutet.

Ist Hermann Maier dein Vorbild?
Ich bewundere manche Menschen für ihre Fähigkeiten. Aber man muss seinen eigenen Weg finden und erleben. Einer muss gewinnen. 99 Prozent scheiden von selbst aus, weil sie sich nichts zutrauen. Doch mit harter Arbeit, Talent und dem richtigen Tag kann es klappen. Mir hat die Überwindung geholfen, über die Grenze gehen. Ich mag keine realistischen Ziele. Man muss sich unrealistische Ziele setzen, um einen geistigen Raum zu bauen. Der Körper kommt dann nach.

Laut einer Studie aus dem Jahr 2006 ist der Prozentsatz der Dopingsünder im Behindertensport höher als jener bei den nicht behinderten Sportlern.
Das kann ich mir nicht vorstellen, da wie dort wird es gleich viele schwarze Schafe geben. Ich habe mich dagegen entschieden.

Werden bei euch Dopingkontrollen durchgeführt?
Selbstverständlich. Wie überall anders auch. Wir gehören der WADA an.

Ist Sport Lebens- bzw. Überlebenshilfe?

Körperlich und geistig profitiert man sicher vom Sport. Man ist durch den Sport positiver und beeinflusst das Umfeld auch positiv. Auch die Volkswirtschaft würde sich durch mehr Sport viel ersparen. Aber der Sport ist nicht das Wichtigste im Leben.

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