Kampusch: "Anhaltspunkte für weitere Täter"

Kampusch: "Anhaltspunkte für weitere Täter"
Der Leitende Staatsanwalt und seine unterschiedlichen Angaben zur Einzeltäter-Theorie.

Die Wahrheit soll ja eine Tochter der Zeit sein. Wenn aber unvermittelt mehrere Töchter auftauchen, dann wird es problematisch. Die österreichische Justiz hat aktuell mit diesem Glaubwürdigkeitsproblem zu kämpfen. Fünf Staatsanwälte stehen unter Amtsmissbrauchsverdacht, sie sollen im Entführungsfall Kampusch wesentliche Ermittlungserkenntnisse ignoriert haben.

Die Herren dementieren jegliche Vorwürfe. In den kommenden Tagen wird die Oberstaatsanwaltschaft in Innsbruck die Entscheidung treffen, ob gegen die Ankläger Anklage erhoben werden soll. Dem KURIER schickten zwei wichtige Beschuldigte, die Oberstaatsanwälte Werner Pleischl und Thomas Mühlbacher, die sich vor dem Ermittlungsrichter der Aussage entschlagen haben, Antworten auf einen Fragenkatalog. Mit bemerkenswerten Inhalten, wie bereits teilweise berichtet wurde.

Besonders spannend wird es beim Thema potenzielle Mittäter, wie sich jetzt dokumentieren lässt. Pleischl und Mühlbacher meinten diesbezüglich neulich zum KURIER: "Sämtliche Befragungen des Opfers Natascha Kampusch (…) ergaben keinen Hinweis, dass ein weiterer Täter an der Entführung bzw. der Gefangennahme tatbeteiligt war."

Dazu völlig konträr lauten die Ausführungen von Thomas Mühlbacher in einem internen Bericht vom September 2009, der dem KURIER vorliegt. Damals schrieb der leitende Staatsanwalt: "Anhaltspunkte für weitere Täter ergeben sich auch aus der Darstellung der Natascha Kampusch, (…)"; "Bei vernetzter Betrachtung legt dies den Verdacht nahe, dass Wolfgang Priklopil die Entführung im Auftrag oder gemeinsam mit einem oder mehreren weiteren Tätern ausführte (…)."

Verdacht auf weitere Täter also. Auch aufgrund der Ausführungen des Opfers. Ein radikaler Widerspruch zu den heutigen Angaben. Offenbar wurden die Staatsanwälte von einem Sinneswandel übermannt, zumal der Fall noch im Jahr 2009, nur drei Monate nach dem internen Bericht des Leitenden Staatsanwaltes, zu den Akten gelegt wurde - mit einem toten Einzeltäter namens Wolfgang Priklopil.

Dabei hatten die polizeilichen Ermittler einen potenziellen Mittäter ausgemacht, der sich durch seine widersprüchlichen Aussagen noch zusätzlich in den Fokus rückte. Mitglieder der Kampusch-Evaluierungskommission, die von Ex-Höchstrichter Ludwig Adamovich geleitet wurde, konnten die Einstellung des Falles auf diese Art nicht nachvollziehen, wobei man noch weitere wesentliche Kritikpunkte festgemacht hat:

Doch auch bei weiteren Antworten auf Fragen des KURIER ergeben sich eklatante Unterschiede zu den Erkenntnissen der Ermittler. Dazu zählen die Behauptungen von Pleischl/Mühlbacher,

- … dass das Bundeskriminalamt (BKA) lediglich Erkundigungen in Richtung kinderpornografischer Umtriebe gegen vier Personen anregte. Laut Ermittlern jedoch kritisierte vielmehr das BKA das Fehlen staatsanwaltschaftlicher Vernehmungsaufträge.

- … dass kriminalpolizeiliche Ermittlungsberichte in der Zeit von Jänner bis Juli 2009 jeweils eingehend geprüft, jedoch als insgesamt unerheblich eingestuft worden seien. Aus dem dazu von Polizeioberst Franz Kröll am 3. August 2009 verfassten Bericht ergibt sich das Gegenteil. Er hat festgehalten, dass die Staatsanwaltschaft Wien zum Teil geradezu gezielt jedwedem Kontakt mit den polizeilichen Ermittlungsbeamten aus dem Weg gegangen ist;

- dass die Medieninformationen der Staatsanwaltschaft, wonach das BKA Ermittlungsaufträgen nicht nachgekommen sei, der Wahrheit entsprochen hätten. Laut Polizeioberst Franz Kröll jedoch seien Serienberichte des BKA ausnahmslos ohne staatsanwaltschaftliche Reaktion geblieben;

- dass die Beschränkung der staatsanwaltschaftlichen Vernehmungen auf eine einzige Person, nämlich Natascha Kampusch den Grund gehabt hätte, dass gleichzeitig der Hauptverdächtige Ernst H. von der Polizei einvernommen worden sei und man dadurch Absprachen zwischen H. und Kampusch verhindern hatte wollen. Laut Ermittlern jedoch wäre die angeblich befürchtete Verabredung längst verhindert werden können. Indem man dem Anraten der Ermittler nachgekommen wäre und den damals dringend verdächtigen H. in Untersuchungshaft genommen

- dass der laut Evaluierungskommission massiv verdächtigen H. am Ende seine Widersprüche glaubhaft erklären hatte können. Laut Ermittlern hingegen lagen (und liegen noch immer) mehr als zwanzig aussagekräftige Indizien in Richtung Mittäterschaft an der Entführung vor (der vermeintliche Einzeltäter Wolfgang Priklopil schied am Tag der Flucht von Kampusch aus dem Leben), die im Abschlussbericht der Staatsanwaltschaft größtenteils übergangen wurden.

- dass die Modalitäten der Gegenüberstellung des Tatopfers mit der einzigen unbeteiligten Tatzeugin keinen Grund zur Beanstandung gegeben hätten. Laut Johann Rzeszut, ehemaliger Präsident des Obersten Gerichtshofes und Mitglied der Evaluierungskommission bestand bei dieser Amtshandlung "der Befugnismissbrauchsverdacht: Da ein sachkundiger Staatsanwalt einen polizeilichen `Gegenüberstellungsbericht` akzeptiert, obwohl sich daraus ergibt, dass der Zeugin ihre langjährig konstanten früheren Angaben über zwei Täter nicht vorgehalten wurden. Das Nichtvorhalten dieser Angaben ist ein klarer Verstoß gegen die Strafprozessordnung."

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