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"Architektur geht alle an"

Was hat sie dazu bewogen, sich ausgerechnet mit der trockenen Materie der Gesetze und Paragrafen zu beschäftigen? Angelika Fitz: Unter Planern und Bauträgern ist das ein ständiges Thema. Aber es trifft nicht nur sie – sondern jeden von uns. Das möchten wir mit der Ausstellung bewusstmachen und einen Blick hinter die Kulissen der Architektur ermöglichen. Das erzählt oft mehr, als wenn man nur die Schönheit der Projekte zeigt.Regeln und Normen beeinflussen unser gesamtes Umfeld. Wie kommen die zustande? In den vergangenen Jahrhunderten waren meist Schutzfunktionen und bestimmte Anlassfälle ausschlaggebend – der Einsturz der Reichsbrücke etwa oder der Ringtheaterbrand, bei dem hunderte Menschen unter anderem deshalb verbrannten, weil sich die Türen nach innen statt nach außen öffnen ließen. Das hat den Brandschutz in Österreich stark vorangetrieben. Aber auch Sozialreformen, wie zum Beispiel die Luft-Licht-Sonne-Reform der Moderne, konnten neue Regeln hervorrufen. Ich bin bis heute froh, dass Investoren nicht irgendeine Fenstergröße wählen können sondern eine Mindestbelichtung garantieren müssen. Andererseits tragen gerade bei der Normierung auch Einzelinteressen großer Industrien zu neuen Regeln bei.

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Welche Faktoren üben heute großen Einfluss aus?Oft ist es die Haftungsfrage: Neuerdings muss immer jemand schuld sein. Rutscht man z.B. auf der Straße mit Stöckelschuhen aus, hat man sich früher geniert. Heute wird gerichtlich geklagt. Das ist eine seltsame gesamtgesellschaftliche Entwicklung, die nicht nur uns verändert, sondern auch die Architektur. Immer mehr Normen und Regeln zielen darauf ab, dass möglichst niemand belangt werden kann. Warum kommt es dann trotzdem zu Unfällen?Es gibt eine interessante Statistik über die Unfallhäufigkeit auf Spielplätzen. Es ist übrigens der einzige Ort, wo das Unfallrisiko einkalkuliert ist. Kinder sollen sich verletzen dürfen. Obwohl Spielplätze in den vergangenen Jahren viel sicherer geworden sind, steigt die Zahl der Unfälle seit 2013 stark an. Dafür gibt es mehrere Thesen: Eltern schauen auf ihre Smartphones und nicht auf die Kinder. Oder sie sind vorsichtiger und melden mehr. Oder die Kinder sind motorisch ungeschickter weil sie kaum gefordert werden. Das zeigt: Normen und Gesetze sind auch ein Ergebnis kultureller Entwicklung - darum geht uns das Thema alle an.Wie äußert sich das im internationalen Vergleich?Das Kulturspezifische zeigt sich etwa bei Gewerbebetrieben in der Stadt: In Paris zählen Bäckereien zum Kulturgut. Es gibt eine spezielle Verordnung, die es ihnen erleichtern soll Backöfen in der Stadt aufzustellen. In Wien ist das anders: Es dauert mitunter Jahre bis zur Genehmigung. Das Problem sind die Emissionen. Egal ob es gut oder schlecht riecht: Es kommt darauf an, wie stark es riecht. Bäckereien wird bei uns deshalb vorgeschrieben, wie lange sie die Fenster geschlossen halten müssen. Unterschiede sind auch in allen Gebäuden spürbar: Wir haben in der Ausstellung Treppen aufgebaut, auf denen man zum Beispiel in der Schweiz oder in Österreich hinauf und in Japan oder Holland hinuntergehen kann. Dabei werden Gegensätze körperlich spürbar.

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Warum werden die Regeln immer mehr – und nicht weniger?Es kommt zu einem Kumulationseffekt, bei dem sich alles addiert. Obwohl jede einzelne Vorschrift sinnvoll sein kann, wirkt die Überfülle absurd, weil immer vom Worst-Case ausgegangen wird. Umgekehrt ist Deregulierung eine sehr heikle Angelegenheit. das können wir in der Ausstellung nicht lösen, aber wir stellen uns der Frage natürlich. Die Kuratorinnen haben das am Beispiel des Grenfell Tower in London untersucht, wo 80 Menschen durch einen Kühlschrank-Brand ums Leben gekommen sind. Es hat sich gezeigt, dass es in London kaum noch geförderten Wohnbau gibt. Stattdessen wurden Regulatorien gelöscht und Kontrollmechanismen an private Agenturen ausgelagert, damit das Bauen für Private billiger wird.Gibt es zu viele Normen, Verordnungen und Regeln?Wichtig ist, dass immer wieder neu verhandelt wird. Die Materie ist sehr fluide und ändert sich ständig. Der Gesetzgeber reagiert auf gesellschaftliche Diskussionen und es kann Veränderungsdruck aufgebaut werden. Durch das Engagement von Architekten wurde etwa erreicht, dass seit 2014 in Wien straßenseitig wieder Balkone gebaut werden dürfen. Das Risiko, dass etwas hinunterfallen könnte, ist zwar gegeben. Aber der Gesetzgeber hat befunden, dass das gesellschaftliche Bedürfnis nach mehr privatem Freiraum so groß ist, dass der Bau von Balkonen nun auch auf der Straßenseite zugelassen wird. Das wird das Stadtbild in nächster Zeit stark verändern.

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Sie sind nun ein Jahr als Direktorin des Az W im Amt. Wie lautet ihre Bilanz?Ich bin sehr glücklich über mein Arbeitsumfeld und über das, was uns in diesem Jahr alles gelungen ist. Wir konnten das Publikum verbreitern und eine jüngere Zielgruppe ansprechen – das ist über Kooperationen mit Universitäten und Studierenden gelungen, und mit der Themenwahl. Etwa die Ausstellung „Assemble“ zu Jahresbeginn, bei der wir uns mit ökologischen, sozialen, finanziellen und materiellen Ressourcen beschäftigt haben. Oder das Projekt „Care + Repair“, bei dem wir mit Partnern einen temporären Standort im Stadtentwicklungsgebiet Nordbahnhof eröffnet haben.Was ist für die Zukunft geplant?Wir wollen diese Linie fortführen und uns weiter einem breiten Publikum öffnen. Wir werden uns mit Themen vor Ort beschäftigen und zugleich mit internationalem Input arbeiten. Denn wir brauchen beides: Internationale Expertise und Lösungen für lokal brennende Themen. Da gibt es genug Überschneidungen: Denn die Frage von Ökologie und Ressourcen oder von gebauter Verteilungsgerechtigkeit beschäftigt Länder und Städte weltweit. Auch die Frage von Gegenwart und Geschichte wird uns begleiten – die neue Ausstellungsreihe „SammlungsLab“, die sich zuletzt dem Terrassenhaus gewidmet hat – werden wir fortsetzen, um den reichen Fundus unserer Architektursammlung allen zugänglich zu machen.Gibt es einen Punkt, der Ihnen persönlich für die Zukunft wichtig ist?Ich wurde anfangs öfter gefragt, ob dasAz Wnur für Architekten und Architektinnen sei oder auch für „normales“ Publikum. Mein Ziel ist es, dass diese Frage obsolet wird. Bei einem Kunstmuseum fragt auch niemand, ob das nur für Künstler ist. Und dabei ist es doch so: Wenn mich Kunst nicht interessiert, muss ich ihr auch nicht begegnen. Doch die Architektur und die Stadt sind unvermeidbar. Insofern gibt es kaum etwas, das uns alle mehr angeht, als die Architektur. Ich will keine Vermittlung mit dem erhobenen Zeigefinger. Aber ich will bewusstmachen, dass Architektur mit unserem Leben zu tun hat und alle etwas beitragen können.

Zur Person

Angelika Fitz ist langjährige Kuratorin und Autorin in den Bereichen Architektur, Kunst und Urbanismus. Seit Jänner 2017 ist sie neue Direktorin des Architekturzentrum Wien. Zuvor hat sie zahlreiche Ausstellungen für internationale Museen und Kulturinstitute kuratiert. Zuletzt u.a. die Projekte We-Traders. Tausche Krise gegen Stadt und Actopolis. Die Kunst zu handeln. 2003 und 2005 kuratierte sie den Österreichischen Beitrag zur Architekturbiennale in São Paulo.

Sie stehen selten im Rampenlicht: Normen, Bauordnungen, Gesetze, Richtlinien und Verordnungen. Angelika Fitz wagt sich an die trockene Materie heran und holt die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Architektur erstmals auf die Bühne des Az W. Gemeinsam mit den Kuratorinnen Martina Frühwirth, Karoline Mayer und Katharina Ritter führt sie in „Form folgt Paragraf“ anschaulich vor Augen, wie sehr das Aussehen unserer Umwelt – unserer Städte, Häuser, Parks und Spielplätze – von Paragrafen bestimmt wird.

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Augenmerk liegt darauf, die Regelwerke erfahrbar zu machen. In großformatigen Fallstudien können die Besucher hinter die Fassade der Architektur blicken und feststellen, wie so manches Erscheinungsbild zustande kommt. Vergleiche mit anderen Ländern zeigen auf, dass ähnliche Herausforderungen in Europa oft sehr unterschiedlich geregelt werden. Bäckt der Pariser Bäcker geruchsärmer als sein Wiener Kollege? Schreien deutsche Kinder lauter als österreichische? Unterschiede wie diese werden mithilfe von 1:1 Installationen körperlich erlebbar gemacht – zum Beispiel anhand eines genormten Spielplatzhauses samt Prüfgeräten. Oder mithilfe eines Persönlichkeitstest, um das individuelle Sicherheitsbedürfnis zu ermitteln. Auch für Anregungen ist Platz: Wünsche und Beschwerden können auf einer großen Tafel hinterlassen werden.Bis 4. April 2018, Architekturzentrum Wien – Ausstellungshalle 2, Museumsplatz 1, 1070 Wien, täglich von 10 bis 19 Uhr.www.azw.at