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Therapie im Mutterleib: Neue Hoffnung für "Vampir-Kinder"

Erlanger Ärzte haben möglicherweise eine Therapie für die seltene und lebensgefährliche Erbkrankheit ektodermale Dysplasie gefunden. Vor der Geburt spritzten sie ein bestimmtes Eiweiß ins Fruchtwasser der werdenden Mutter. Das normalerweise natürlich im Körper vorhandene Protein Ektodysplasin A1 (EDA1) sorge dafür, dass sich Haare, Zähne und Schweißdrüsen bilden. Bei den Zwillingen einer 40-Jährigen sowie einem weiteren Buben sei eine Behandlung erfolgreich gewesen. Noch fehlen jedoch größere Studien.

Lebensbedrohliche Krankheit

Föten mit ektodermaler Dysplasie fehlt das EDA1-Protein. Die Kinder bilden daher keine Schweißdrüsen und -poren aus. Und weil sie nicht schwitzen können und ihren Körper auf diese Weise kühlen, drohen sie, an Überhitzung zu sterben - vor allem bis zum Alter von zwei Jahren ist die Krankheit lebensbedrohlich. Außerdem haben die Kinder kaum Haare, trockene Haut, und ihnen fehlen Zähne oder diese sind ungewöhnlich spitz. "Sie sehen aus wie kleine Vampire", sagte der Oberarzt der Kinderklinik und Sprecher des Zentrums für Ektodermale Dysplasien Erlangen, Holm Schneider.

Etwa 20 bis 30 Kinder werden pro Jahr in Deutschland mit dem bisher unheilbaren Gendefekt geboren. Weil die Krankheit so selten ist, hat die Pharmaindustrie kein Interesse an der Entwicklung von Medikamenten. Dabei sterben auch in Europa Kinder an dieser Krankheit, wenn sie nicht erkannt wird. Die Sterblichkeit liegt laut Holm in unseren Breiten zwischen zwei und 20 Prozent. Die fränkischen Forscher wollen im kommenden Jahr mit Hilfe einer gemeinnützigen Stiftung eine klinische Studie durchführen. Ziel ist ein zugelassenes Therapieverfahren.

Wird das Protein ins Fruchtwasser gespritzt, nehmen die Kinder es über das Schlucken auf. Ein bestimmter Rezeptor im Darm sorgt dafür, dass es in die Blutbahn gelangt. Dieses Verfahren könne man möglicherweise künftig auch bei anderen Defekten wie etwa Gaumenspalten nutzen, so die Wissenschafter. Statt des Gens verändere man nur das Produkt - in diesem Fall das Eiweiß -, sagte der Direktor der Frauenklinik, Matthias Beckmann. "Das ist technisch sicher der einfachere Weg."

Therapie im Mutterleib

Corinna T. aus der Nähe von Bremen hat selbst den Gendefekt und gab ihn an ihren ersten Sohn Joshua (5) weiter. "Er hat keine Tränen geweint", berichtete die 40-Jährige. Außerdem habe er im Alter von zwei Jahren noch keine Zähne gehabt und sei oft heiß geworden. Ein Gentest brachte Gewissheit. Danach habe sie "eine Nacht nur geweint". Bei Frauen ist der Gendefekt zumeist weniger stark ausgeprägt.

Als sie erneut schwanger wurde - mit Zwillingen -, entschieden sie und ihr Mann sich für den Therapieversuch. Denn schon im Mutterleib kann die Krankheit diagnostiziert werden: Per Ultraschall kann man die fehlenden Zahnanlagen erkennen. "Wenn wir die Chance haben, den Kindern das Leben zu erleichtern, dann versuchen wir das", sagte T. So wurde ihr Anfang 2016 in der 26. und der 31. Schwangerschaftswoche das Protein in die Fruchtblase gespritzt - 28 und 15 Milliliter.

Die inzwischen zwei Jahre alten Buben Linus und Maarten können normal schwitzen. Mit dem Mikroskop untersuchten die Ärzte Fußsohlen und Handflächen der Kinder und stellten fest: "Sie haben genauso viele Schweißporen wie eine gleichaltrige Kontrollperson", sagte Schneider.

Auch bei einer weiteren Frau wurde das Verfahren angewendet - jedoch nur einmalig, denn das Ersatzprotein war nicht mehr verfügbar. Deren Sohn habe eine "etwas geringere Schwitzfähigkeit" als die Zwillinge, sagte Holm. "Aber das ist in unseren Breitengraden ausreichend."

In vorherigen Versuchen hatten die Ärzte herausgefunden, dass die Therapie nur vor der Geburt wirksam ist - denn nur dann besteht noch die Chance, dass die Schweißdrüsen gebildet werden. Sie werden zwischen der 20. und der 30. Schwangerschaftswoche angelegt.

Mechanismus entschlüsselt

Amir Yazdi, Sprecher des Zentrums für seltene Hauterkrankungen an der Universität Tübingen, vermutet, dass auch die klinische Studie erfolgreich sein wird: "Es wird reproduzierbar sein, denn der Mechanismus ist ja entschlüsselt." Noch seien es zwar zu wenig Patienten und ein zu früher Zeitpunkt, um etwas über die langfristigen Folgen sagen zu können. Er könne sich jedoch kaum Langzeit-Nebenwirkungen vorstellen, denn "man modifiziert hier ja keine Gene".

Ihre Ergebnisse haben die Erlanger Ärzte im New England Journal of Medicine veröffentlicht.