Immer mehr Masernfälle: Fünf Mythen zur Erkrankung und Impfung
Von Ernst Mauritz
Ein Ende ist derzeit nicht abzusehen: "Masern in Österreich - 2024 schon mehr als 50 bestätigte Fälle, weitere derzeit in Abklärung“, schrieb am Freitag die Virologin Judith Aberle von der MedUni Wien auf der Plattform X (früher Twitter). Mittlerweile sind es bereits knapp 60 Fälle seit Jahresbeginn, die Zahl der Verdachtsfälle stieg bereits auf 100. Wien und Tirol verzeichnen derzeit die meisten Fälle durch regionale Masernausbrüche - der KURIER berichtete.
"Schon im Jahr 2023 war Österreich mit 186 Fällen nach Rumänien von der zweithöchsten Masernhäufigkeit in Europa betroffen", sagt der Grazer Kinder- und Jugendarzt Hans Jürgen Dornbusch, Impfreferent der Österreichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendheilkunde (ÖGKJ).
Auch in vielen anderen europäischen Ländern wird derzeit ein „drastischer Anstieg“ an Infektionen registriert, schrieb kürzlich das Wissenschaftsmagazin Nature.
„Das sind die Folgen von Impflücken, die sich während der Pandemie noch vergrößert haben“, betont Dornbusch. Um die Masern langfristig auszurotten, ist laut Weltgesundheitsorganisation WHO eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent (mit zwei Impfungen) notwendig. "Die erreichen wir in Österreich aber nicht, besonders bei Kleinkindern und jungen Erwachsenen haben wir erhebliche Lücken, insgesamt sind nur etwas über 80 Prozent der impfbaren Bevölkerung mit zwei Impfungen ausreichend geschützt.“
Exakte Zahlen gibt es aus der Steiermark: Dort waren 2022 86 Prozent der 3- bis 6-Jährigen und 82 Prozent der 9- bis 14-Jährigen zwei Mal geimpft.
Auch Erwachsene betroffen
Kinder- und Jugendarzt Dornbusch verweist auch darauf, dass es falsch ist, Masern als reine Kinderkrankheit zu betrachten: „In der Steiermark liegt derzeit ein 49.jähriger Mann mit Masern auf einer Intensivstation, auch eine 23-jährige Frau ist erkrankt. Beide sind ungeimpft. Weitere dringende Verdachtsfälle werden gerade abgeklärt.“
Die wichtigsten Symptome bei Masern sind hohes Fieber, der typische Hautausschlag (rote Flecken) beginnend am Kopf mit Ausbreitung auf den ganzen Körper und eine Bindehautentzündung.
Bereits vier Tage vor dem Auftreten des Ausschlags sind an Masern Erkrankte infektiös und können andere anstecken. "Beim kleinsten Verdacht auf Masern - das betrifft auch Ungeimpfte mit Symptomen einer Atemwegserkrankung - auf keinen Fall unangemeldet in eine Ordination oder eine Ambulanzfahren", betont Dornbusch: "Damit können Säuglinge, die noch nicht geimpft wurden bzw. geimpft werden konnten, lebensbedrohlich gefährdet werden."
Nach wie vor würden gerade bei der Masernimpfung hartnäckige Impfmythen kursieren: „Sie sind aber allesamt falsch.“
Ein Überblick.
Fünf häufige Mythen im Zusammenhang mit Masern
Mythos 1: Masern sind doch nur eine harmlose Kinderkrankheit
„Von harmlos kann überhaupt keine Rede sein“, sagt Dornbusch. In den Industriestaaten stirbt etwa jede tausendste an Masern erkrankte Person, meist an den Folgen einer Lungen- oder Gehirnentzündung. Dornbusch: „Das bedeutet: Blieben alle Kinder ungeimpft, gäbe es jedes Jahr 85 tote Kinder aufgrund einer Masernerkrankung – bei 85.000 Geburten jährlich.“
Einer bzw. eine von fünf Erkrankten hat einen schweren Krankheitsverlauf, zum Beispiel mit schwerer Bronchitis, Mittelohr- oder Lungenentzündung.“ Eine besonders schwerwiegende Komplikation ist die sogenannte Masernenzephalitis (Gehirnentzündung), die zu Hörverlust, zu bleibenden neurologischen Folgeschäden wie etwa einer geistigen Behinderung, aber auch zum Tod führen kann.
Hinzu kommt besonders bei Kindern von unter einem Jahr das Risiko für eine ganz spezielle Folgeerkrankung in Form einer Gehirnentzündung, der sogenannten SSPE (subakut sklerosierende Panencephalitis).
„Das betrifft einen von 600 infizierten Säuglingen, je jünger, umso größer die Gefahr.“ Diese Spätfolge tritt erst fünf bis über zehn Jahre nach der akuten Erkrankung auf: „Es kommt zu einem fortschreitenden Funktionsverlust des Gehirns, es gibt keine Möglichkeit der Behandlung, diese Erkrankung führt immer zum Tod.“
In Österreich wurden von 1998 bis 2007 – als Folge der starken Masernaktivität in den 90-er Jahren – 16 SSPE-Fälle registriert: „Diese Kinder sind mittlerweile alle verstorben.“
Hingegen kann die Masernimpfung keine SSPE auslösen, schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI).
Mythos 2: Eine Maserninfektion ist für die Entwicklung und Stärkung des Immunsystems wichtig
„Genau das Gegenteil ist der Fall“, sagt Dornbusch. „Das Immunsystem wird anhaltend geschwächt.“ Und zwar aus zwei Gründen:
- „Die T-Helferzellen – spezielle Abwehrzellen – werden zerstört, so, wie das beim Vollbild von AIDS der Fall ist“, sagt Dornbusch: „Das hält zirka zwei Monate an, Masern machen einen also quasi für zwei Monate AIDS-krank, zumindest ist der Zustand des Immunsystems vergleichbar.“
- Für zwei bis drei Jahre kommt es darüberhinaus zu einer Schwächung der B-Gedächtniszellen. Sie speichern eigentlich die Informationen für die Bildung von Antikörpern gegen Erkrankungen, die der oder die Betroffene bereits früher einmal durchgemacht hat.
Fazit: „Durch diese anhaltende, deutliche Schwächung des Immunsystems ist für einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren das Risiko für andere Infektionskrankheiten deutlich erhöht“, betont Dornbusch. „Sogar die Sterblichkeit an solchen Infektionen ist in diesem Zeitraum höher.“
Kinder machen in ihren ersten sechs Lebensjahren bis zu 40 Infektionskrankheiten durch, zumeist Erkältungs- und Durchfallerkrankungen. „Die durch Impfen verhinderten Krankheiten wie Masern, Mumps oder Röteln sind somit nur ein kleiner Teil aller Infektionen eines Kindes“, heißt es in einer Aufklärungsbroschüre der ÖGKJ. „Das Immunsystem braucht sie nicht zu seiner Entwicklung, es ist mit allen anderen Infektionen, die nicht durch Impfungen verhindert werden können, ausreichend beschäftigt.“
Mythos 3: Durch die Impfung kann man doch auch Masern bekommen
„Die Impfung löst keine Masern aus. Bei zirka fünf Prozent der Geimpften kann es fünf bis fünfzehn Tage nach der ersten Impfung zu harmlosen Impfmasern kommen, deren einzige Symptome Ausschlag und Fieber sind“, betont Dornbusch. „Impfmasern verursachen aber keine Komplikationen und klingen bereits nach ein bis drei Tagen wieder ab. Sie sind nicht gefährlich, nicht ansteckend und verursachen auch keine Schwächung des Immunsystems.“
Diese "Impfmasern" können deshalb entstehen, weil es sich bei der Masern-Mumps-Röteln-Kombinationsimpfung um eine Lebendimpfung handelt. Die Symptome sind eine Reaktion des Immunsystems auf die Impfung. Nach einer zweimaligen Impfung ist man in der Regel lebenslang vor einer Erkrankung durch Wildviren geschützt.
Fazit: Die zweifache Masernimpfung verhindert bei etwa 98 bis 99 Prozent der Geimpften den Ausbruch einer Erkrankung und führt bei ihnen in der Regel zu einem lebenslangen Schutz vor einer Ansteckung, so das RKI. Da es zu keiner Infektion kommt, können zweifach Geimpfte das Virus auch nicht an andere weitergeben - sie sind sozusagen eine "Sackgasse" für das Virus. Dies wird als "sterile Immunität" bezeichnet.
Eine Impfung allein führt bei 95 Prozent der Geimpften zu einem vollständigen Schutz, der aber nicht mit Sicherheit lebenslang andauert.
Die erste Kombinationsimpfung Masern-Mumps-Röteln ist ab dem vollendeten neunten Lebensmonat möglich. Erfolgt die erste Impfung im ersten Lebensjahr, wird drei Monate später die zweite Dosis geimpft.
Erfolgt die Erstimpfung erst nach dem ersten Lebensjahr, kann der Abstand zur weiten Impfung auf vier Wochen verkürzt werden.
Sollte von den Gesundheitsbehörden regional ein Masern-Ausbruch offiziell ausgerufen werden, kann eine erste Impfung bereits ab dem vollendeten sechsten Lebensmonat durchgeführt werden, anschließend kommt das normale Impfschema mit zwei weiteren Impfungen zum Tragen.
Kinderarzt Dornbusch erklärt: „In normalen Zeiten impft man nur deshalb nicht unter neun Monaten, weil da noch die Möglichkeit besteht, dass Masern-Antikörper der Mutter, die sie dem Ungeborenen als Schutz vor einer Erkrankung weitergegeben hat, den Impfstoff zerstören. Aber wie lange dieser Schutz anhält, ist individuell sehr verschieden – sicher nicht über den neunten Monat hinaus.
Aber es kann durchaus sein, dass ein sechs Monate altes Baby keinen ausreichenden Nestschutz mehr hat – deshalb wird in einer Ausbruchssituation das Alter für die Erstimpfung vorübergehend auf sechs Monate gesenkt.“
Diese frühe Impfung wird allerdings nicht für das normale Impfschema gezählt, sondern zusätzlich durchgeführt. Dornbusch: „Man kann aber nicht überimpfen, da besteht keine Gefahr.“
Mythos 4: Die Masernimpfung erhöht doch das Risiko für autistische Störungen oder Allergien
„Zahlreiche wissenschaftliche Studien belegen, dass es keinen Zusammenhang zwischen der MMR-Impfung und autistischen Störungen oder Autismus gibt“, schreibt das renommierte Robert-Koch-Institut. „Für den in der Vergangenheit wahrgenommenen Anstieg von Autismusfällen gibt es eine gute wissenschaftliche Erklärung. Er ist vor allem durch neuere, sensiblere Diagnosekriterien, eine verbesserte diagnostische Praxis und durch ein gesteigertes öffentliches Bewusstsein für die Erkrankung zu begründen.“
Dazu Dornbusch: „Leider wird dieser Mythos nach wie vor in den sogenannten sozialen Medien verbreitet, obwohl das längst eindeutig widerlegt ist. Es wird hier von Impfgegnern eine Angst geschürt, die durch nichts begründet ist.“
Dasselbe gilt für das Thema Allergien: „Großangelegte Studien zeigen, dass die Häufigkeit, mit der Kinder an z. B. Asthma bronchiale erkranken, bei geimpften und nicht geimpften Kindern gleich ist.“
„Es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise, dass die Impfung Allergien auslöst“, heißt es in einem Informationspapier des Gesundheitsministeriums. „Im Gegenteil – Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder mit einer Neigung zu Allergien davon profitieren, geimpft zu sein, weil sie eine stärkere Neigung zu bestimmten Infektionen haben“ – und Impfungen diese verhindern.
Mythos 5: Sollten bei meinem Kind oder mir Masern auftreten, dann kann ich sie ja behandeln lassen
„Es gibt keine spezifische antivirale Therapie gegen Masern“, betont Dornbusch. Es können lediglich mit ausreichend Flüssigkeit und fiebersenkenden Medikamenten die Symptome gelindert werden. Treten zusätzlich bakterielle Infektionen auf, werden Antibiotika eingesetzt. „Aber die Maserninfektion als solche können wir nicht behandeln“, betont Dornbusch. „Anders als etwa bei Covid-19 oder Influenza gibt es noch kein Medikament, das bei rascher Gabe die Virusvermehrung im Körper zumindest bremsen kann.“