Wir werden nicht mehr klüger
Von Nicole Thurn
Lucy lernt schneller als ein Computer. Nach einer Stunde kann sie Chinesisch, spontan wendet sie Kampfkünste an, wirbelt per Gedankenkraft Angreifer durch die Luft und spult die Zeit zurück. Der neue Kinofilm "Lucy" von Luc Besson beschreibt die Evolution einer jungen Frau, gespielt von Scarlett Johansson, die über eine Superdroge 100 Prozent ihrer Gehirnleistung nutzt. Doch die Wahrheit über die neuronale Leistungsverbesserung des Menschen ist nicht nur anders, sondern ernüchternd, wie der deutsche Hirnforscher Gerhard Roth erklärt.
KURIER: "Lucy" nutzt hundert Prozent ihres Gehirns. Ist es theoretisch möglich, seine Gehirnleistung drastisch zu steigern?Gerhard Roth: Überhaupt nicht. Das Gehirn hat von allen Organen im Körper den höchsten Stoffwechsel. Ist die für Lernen und Denken zuständige Großhirnrinde aktiv, sind die verfügbaren Stoffwechselreserven schnell erschöpft. Allein wenn ein Zehntel der Nervenzellen in der Großhirnrinde gleichzeitig aktiv wäre, wäre das unglaublich viel.
Es heißt, der Mensch nutzt nur zehn Prozent seines Gehirns.
Das ist Unsinn. Das Gehirn ist immer nur in bestimmten Teilen hochaktiv, mehr kann es sich nicht leisten. Generell versucht das Gehirn, die Aktivität der Nervenzellen möglichst niedrig zu halten. Je intelligenter ein Mensch ist, desto weniger benutzt er die Großhirnrinde – und desto weniger Energie verbraucht er.
Was macht Intelligenz aus?
Intelligenz ist zu 50 Prozent angeboren, zu 30 Prozent von frühkindlicher Förderung abhängig, der Rest kommt von Übung im späteren Alter. Intelligente Menschen nutzen das Gehirn effizienter, weil sie die Ordnungszusammenhänge schneller erfassen, Informationen schneller verarbeiten. Und sie können vorhandenes Wissen schneller aktivieren. Ihr Gedächtnis ist effektiver.
Wie weit kann man seine Denkleistung steigern?
Im Jugend- und Erwachsenenalter kann man seine Denkleistung maximal um fünf bis sechs IQ-Punkte steigern – und das auch nur bei regelmäßigem Training. Hört man damit auf, ist alles wieder weg.
Das ist ernüchternd. Ein Grund, warum Ritalin unter Hochleistungs-Studenten als Gehirndoping gilt?
Ritalin ist eine Droge, die massiv in die Transmittersysteme im Gehirn eingreift. Es hilft beim Aufmerksamkeitsdefizit, doch setzt man es ab, ist der positive Effekt dahin. Die Nebenwirkungen sind enorm: schlechtere Aufmerksamkeit, Kopfschmerzen, Schlafstörungen – wie bei jedem Drogenentzug.
Wie kann ich meine Lernleistung ohne Medikamente pushen?
Indem Sie trainieren, sich zu konzentrieren und zuzuhören. Auch Verhaltenstherapie und autogenes Training kann helfen, ruhiger zu werden.
Eine finnische Studie zeigt, dass Mitarbeiter mit Überstunden einen geringeren IQ aufweisen. Wie das?
Der IQ ändert sich nicht, dafür aber die Aufmerksamkeitsleistung. Je stärker sie gefordert ist, desto schneller erschöpft sie sich. Ein guter Vortragender erzählt daher nach fünf Minuten für 30 Sekunden etwas Entspannendes oder macht eine Pause.
Heißt das, im Job müsste man ebenso oft Pausen machen?
Je komplizierter und neuer die Aufgabe, desto öfter. Ist die Belastung hoch, gerät man in Stress – und der schaltet das Arbeitsgedächtnis ab. Daher muss man ein Niveau erreichen, wo die Konzentration gut, aber nicht zu hoch ist. Anstatt den Berg hochzurennen, muss man auch langsame Schritte gehen.
Sie sagen, die Persönlichkeit prägt das Denken – inwiefern?
Der Lernerfolg wird von Intelligenz, Motivation und Wiederholung des Gelernten bestimmt. Die Motivation kommt einerseits von innen, von meiner Persönlichkeit – weil ich Spaß am Lernen habe. Und vom Lehrenden – seine Persönlichkeit kann enorm motivieren.
Nimmt die Lernfähigkeit mit dem Alter tatsächlich ab?
Das kognitive Lernen hat seinen Höhepunkt zwischen 15 und 30 Jahren, danach nimmt es ab. Man kompensiert das aber mit mehr Erfahrung und Wissen. Am längsten dauert die motorische Lernfähigkeit an – Klavierspielen geht auch mit 60 noch leicht, wenn man viel geübt hat.
Laut Studien steigt die emotionale Intelligenz mit dem Alter.
Das ist leider falsch. Ältere Menschen werden unemotionaler, die Gefühlszentren im Gehirn sind weniger plastisch. Man freut sich nicht mehr so, leidet aber auch weniger.
Wenn ich nach 20 Jahren im selben Job etwas Neues mache, muss das doch die Synapsen beleben?
Die Fähigkeit, mit 45 Jahren etwas Neues zu erlernen, ist deutlich beschränkter als in der Jugend. Weniger wegen der fehlenden kognitiven Fähigkeit, sondern wegen geringerer Emotionalität und Motivation. Die älteren Arbeitnehmer fragen dann: Was habe ich davon, wenn ich umlerne?
Also Lernresistenz, Sturheit?
Ich habe in einem Konzern ein Gutachten erstellt: Je älter die Mitarbeiter, desto geringer war ihre Motivation zur Umschulung. Sie wollten wissen, warum sie etwas tun und was sie davon haben. Die Firmen müssen hier stärker ansetzen.
Zur Person
Gerhard Roth ist einer der führenden Neurobiologen Deutschlands. Er lehrt und forscht als Professor für Verhaltensphysiologie und Entwicklungsneurobiologie am Institut für Hirnforschung der Universität Bremen. Er hat mehr als 200 Fachartikel in Neurobiologie und Neurophilosophie veröffentlicht.
Neurobiologe
Bücher
Zuletzt erschienen sind: „Bildung braucht Persönlichkeit“ (2011), „Persönlichkeit, Entscheidung und Verhalten“ (8. Aufl., 2013). Im September erscheint „Wie das Gehirn die Seele macht“ (mit Nicole Strüber, alles im Klett-Cotta-Verlag).