Böhmermann gibt keine Unterlassungserklärung ab
Zwar meidet Jan Böhmermann weiterhin die Öffentlichkeit – er steht unter Polizeischutz -, aber er steht zu seinem Werk. Die Süddeutsche Zeitung berichtet, dass er keine Unterlassungserklärung abgeben wird. "Mein Mandant wird keine Unterlassungserklärung abgeben", schrieb demnach Böhmermanns Anwalt Christian Schertz den Anwälten von Erdogan und teilte ihnen mit, das "offensichtlich übersehen worden, dass das Gedicht nicht solitär verbreitet wurde, sondern in einer Gesamtdarstellung über das, was in Deutschland erlaubt ist und was nicht", schreibt die Zeitung.
Bei der Unterlassungserklärung geht es um die zivilrechtliche Seite, also um Erdogan als Privatmann gegen Böhmermann als Privatmann. Hätte Böhmermann die Erklärung abgegeben, hätte der Satiriker das Gedicht weder wiederholen noch erneut verbreiten dürfen.
Protest der ZDF-Mitarbeiter
Am Donnerstag wurde verteilten ZDF-Mitarbeiter via Hauspost ein Protestschreiben. Darin fordern sie, dass der Beitrag wieder in die Mediathek des Senders gestellt wird. Der Redakteursausschuss des ZDF schreibt in dem Brief: "Wir würden es begrüßen, wenn die 'Schmähkritik' vom Giftschrank wieder in die Mediathek gestellt wird. Als Dokument der Zeitgeschichte." Weiters würden nicht nur bei Böhmermann, sondern auch in der "heute-show", der "Anstalt" oder bei "toll" notorisch so hart angegangen, dass sie sich beleidigt fühlen könnten. Personen der Zeitgeschichte müssten sich Satire gefallen lassen und der Sender habe einen großartigen Erfolg errungen:
"Eine ZDF-Sendung bewegt Regierungschefs und ersetzt ein juristisches Proseminar. Programmauftrag erfüllt", heißt es in dem Brief. Der Preis dafür sei allerdings eine ZDF-Führung, "der teilweise vorauseilender Gehorsam nachgesagt wird" und ZDF-Redakteure, die abgenommene Filme aus der Mediathek nehmen müssten. "War es das wirklich wert?" Insgesamt habe der Umgang mit der Schmähkritik zu Verunsicherung bei den Programmmachern geführt. Den gesamten Brief im Wortlaut finden Sie weiter unten.
Beitrag bleibt offline
In einer Stellungnahme erteilte das ZDF dem Wunsch der Redakteure eine Absage: "Es ist das gute Recht des Redakteursausschusses, diese Meinung zu vertreten. Das ZDF bleibt aber bei seiner Entscheidung, das umstrittene 'Schmähgedicht' nicht mehr zu verbreiten, weil die Passage nicht den Qualitätsansprüchen und Regularien des ZDF entspricht."
Entscheidung der Bundesregierung
Die Entscheidung der Bundesregierung ob Erdogans-Anzeige durchgeht ist in jedem Fall heikel. Sie wird aber noch in dieser Woche erwartet und möglicherweise bei der Pressekonferenz gleich mit bekanntgegeben. Merkel dürfte auf größtmögliche Geschlossenheit setzen. Die Regierung hat die Wahl zwischen einer Ermächtigung der Staatsanwaltschaft zur Strafverfolgung Böhmermanns wegen dessen vulgären Gedichts über den türkischen Staatschef Recep Tayyip Erdogan und dem Nein zu einem entsprechenden Wunsch der Türkei. So oder so wird es Kritik hageln: entweder aus Ankara, wo das Gedicht als Beleidigung Erdogans gewertet wird, oder in Deutschland, wo viele eine Beschränkung der Meinungsfreiheit fürchten.
Presseschau
Während in Deutschland die Affäre Böhmermann fast schon jede politische Diskussion beherrscht, melden sich immer mehr ausländische Medien zu Wort. Ein Überblick:
"Wie weit reicht Erdogans Macht? Wenn es nach ihm geht, sehr weit. Er fordert Strafverfolgung für den Komiker Böhmermann, der ihn verspottet hat. Die ganze Sache ist dermaßen aus dem Ruder gelaufen, dass Bundeskanzlerin Merkel nun ein Problem hat. (...) Indem sie die Satire Böhmermanns als “verletzend„ bezeichnete, hat sie für böses Blut gesorgt. Subtil sind die Tiraden des Komikers wirklich nicht, und auch großzügige Geister werden sie nicht sonderlich lustig finden. Aber es geht darum, dass in einer offenen, demokratischen Gesellschaft derartige Äußerungen möglich sind. Merkel muss Rückgrat zeigen. Erdogan kann nicht bestimmen, wie weit Humor in Deutschland gehen darf. Einmal mehr hat der Präsident gezeigt, dass die heutige Türkei nicht in die EU gehört."
Jyllands-Posten (Dänemark)
"Anstatt die freie Presse und ihre Satiriker frei wirken zu lassen, hat Angela Merkel sich bei Erdogan entschuldigt, aber wie der traurige Verlauf der Sache gezeigt hat, will er mehr. Eine Entschuldigung war nicht genug. Jetzt will Erdogan auch das Recht auf seiner Seite haben und hat die einleitenden juristischen Schritte getätigt. Merkels Entschuldigung wird als Kniefall vor Erdogan aufgefasst. Die ganze Affäre ist eine triste Illustration dessen, was passiert, wenn man sich Druck beugt. Man bekommt mehr Druck, nicht weniger."
Diena (Lettland)
"Eine Satire über den autoritären türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, die Ankara ganz ernsthaft verärgert hat, bereitet der deutschen Kanzlerin Angela Merkel große Kopfschmerzen. Einerseits sind gute Beziehungen mit der Türkei sehr wichtig für sie, um die europäische Flüchtlingskrise zu bewältigen. Anderseits kann sie sich nicht gegen die Meinungs- und die Pressefreiheit stellen, die einer der Eckpfeiler der deutschen Demokratie ist."
Wer unsere ZDF-Nachrichten und -Talkshows verfolgt, erfährt: Es gibt Menschen mit großen Problemen auf dieser Welt und in diesem Land. Wer sich im ZDF umhört, weiß: Es gibt Kollegen mit großen Sorgen - um ihre Zukunft, um unsere journalistische Qualität. Wer ZDF sieht und den Kollegen zuhört, merkt: Alle reden über Böhmermann ./. Erdogan.
Welch ein Erfolg! Als ZDF-Redakteure wollen wir Aufmerksamkeit. Wir wollen Themen setzen, Diskussionen anschieben, Bildung vermitteln. Das ist gelungen. Das Duell Böhmermann vs Erdogan beherrscht die Schlagzeilen. Themen wie Pressefreiheit und der verstaubte 'Schah-Paragraf' sind in aller Munde. Eine ZDF-Sendung bewegt Regierungschefs und ersetzt ein juristisches Proseminar. Programmauftrag erfüllt.
Der Preis ist, unter anderem, eine ZDF-Führung, der teilweise vorauseilender Gehorsam nachgesagt wird. ZDF-Redakteure, die abgenommene Filme aus der ZDFmediathek nehmen müssen; ein ZDF-Moderator, der mitsamt Familie unter Polizeischutz gestellt wird. Sowie ein fragwürdiger Staatspräsident, der sich als Opfer generieren kann.
War es das wirklich wert?
Als ZDF-Redakteursausschuss laden wir für kommenden Dienstag um 12 Uhr zu einer Diskussion über Pressefreiheit ein - u.a. mit Dunja Hayali. Die Kollegin wurde bedroht, nicht wegen performativer Schmähkritik, sondern weil sie ihrem Beruf als Journalistin nachging. Wie wir alle. Das macht uns ernste Sorgen. Für uns alle. Darum wollen wir uns kümmern.
Zu Böhmermann/Erdogan haben wir aber auch eine Meinung:
Bei Böhmermann, der "heute-show", der "Anstalt" und bei "toll" werden Politiker notorisch so angegangen, dass sie beleidigt sein könnten. Wir plädieren dafür, einheitliche Maßstäbe anzulegen, Personen der Zeitgeschichte müssen sich bitterböse Satire gefallen lassen. Wir würden es begrüßen, wenn die "Schmähkritik" vom Giftschrank wieder in die Mediathek gestellt wird. Als Dokument der Zeitgeschichte.
Der Redakteursausschuss freut sich über die klare Aussage von ZDF-Intendant Dr. Thomas Bellut, dass das ZDF weiterhin zu den Satire-Formaten und zu Jan Böhmermann steht. Die ZDF-Redakteure, die diese "Schmähkritik" abgenommen haben, sowie Jan Böhmermann konnten nach allen bisherigen Sende-Erfahrungen darauf vertrauen, das Richtige zu tun. Selbst wenn die Direktoren die Abnahme diesmal für einen Fehler halten sollten, gebührt den Kollegen in dieser zugespitzten Lage der volle Schutz des Hauses.
Dennoch hat der "Fall" Böhmermann zur Verunsicherung bei Programmachern geführt und Fragen aufgeworfen: Gegen welche Qualitätskriterien hat das Gedicht verstoßen? Wie weit darf Satire im ZDF gehen? Wir wünschen uns ein Forum, auf dem die Programmgestalter - und auch interessierte ZDF-Mitarbeiter - gemeinsam mit Verantwortlichen des Hauses darüber diskutieren können.
Dr. Michael Funken, Hubert Krech, Dr. Stefan Münker, Sprecher des ZDF-Redakteursausschusses
Es ist ein Moment, den man eigentlich genießen sollte, nicht ganz unähnlich jenem, nachdem man sich die Zehe angehaut hat, aber noch nicht weiß, ob’s jetzt gleich ganz schlimm weh tut oder nicht. Jan Böhmermann ist hochgehüpft und allen zugleich ganz mächtig auf die Füße gestiegen. Und jetzt ist dieser faszinierende Moment, an dem noch offen ist, ob etwas wirklich beschädigt ist – und wenn, dann was.
Kandidaten, die sich anbieten: Die Meinungs-, Satire- oder Pressefreiheit in Deutschland. Das Selbstbild Deutschlands oder Europas oder des ganzen Abendlandes als souveräne, mächtige, freie Gesellschaft. Angela Merkel, Jan Böhmermann, Recep Tayyip Erdoğan. Wir.
Alle schauen gerade neugierig an sich herab, wo denn diese Wunde aufklafft, die das Schmäh-Video Böhmermanns geschlagen hat. Dass es eine derartige Wunde gibt, wird außer Zweifel gestellt. Denn Europas Öffentlichkeit war zuletzt schon ein eingebildeter Kranker mit hohem Aufregungsfieber. Und nun haben wir dank Böhmermann endlich das Symptom zur eingebildeten Krankheit. Die ist voll ausgebrochen: Jetzt wird allen Ernstes diskutiert, ob wir unsere Meinungsfreiheit gegen „die Türken“ verteidigen müssen oder Europa „ausgeliefert“ ist oder Satire verboten gehört, oder ob all die Vorurteile, die wir gerne pflegen, wahr geworden sind.
Hereingefallen!
Nur dadurch wurde ein Video, das gesammelte Vorurteile aufzählt, zum Gradmesser unserer Verfasstheit und Verfassung. Denn Böhmermann hat uns gemeint, und wir sind hereingefallen. Die eigentliche Kunst des Satirikers ist, unsere defensive, unsouveräne, unsichere Reaktion vorzuführen. Dass sich prominente Künstler und unprominente Bürger auf Böhmermanns Seite stellen; die Medienmacher die Pressefreiheit noch höher halten als sonst; dass selbst ein No-na-net-Satz der Kanzlerin zur großen Bedeutung der Meinungsfreiheit derart aufgeregt behandelt wird, als wäre damit etwas Umstrittenes gesagt, das ist ja eh schön und richtig so. Aber gleichzeitig das eigentliche Alarmsignal in dieser Affäre.
Es zeigt: Wir müssen uns selbst schon ordentlich umschauen, wo all diese Werte geblieben sind. Wir setzen, wenn nicht gerade Erdoğan das dankbare Feindbild macht, selbst gerne auf lautstarke Männer und einfache Antworten und Einschränkungen und Grenzen. Böhmermann hat uns erinnert, wohin das führen kann.
Merkel selbst hat es jetzt in der Hand, diesen Moment des Innehaltens zu beenden: Sie muss zustimmen, ob Böhmermann verfolgt wird. Und dann? Dann passiert das, was wir zulassen. Es kann schon sein, dass Böhmermann gegen dieses uralte deutsche Beleidigungsgesetz verstoßen hat. Na und? Dann soll er ein paar symbolische Euro Geldstrafe zahlen, und dann wird das doofe Gesetz abgeschafft. Deutlicher kann man nicht feststellen, dass die Meinungsfreiheit im heutigen Deutschland mehr wert ist als früher. Das wäre die souveräne Reaktion auf das selbstgemachte Schlamassel. Und heilsam.
(Georg Leyrer)