Affäre Böhmermann: Und jetzt regen wir uns alle wieder ab
Von Georg Leyrer
Es ist ein Moment, den man eigentlich genießen sollte, nicht ganz unähnlich jenem, nachdem man sich die Zehe angehaut hat, aber noch nicht weiß, ob’s jetzt gleich ganz schlimm weh tut oder nicht. Jan Böhmermann ist hochgehüpft und allen zugleich ganz mächtig auf die Füße gestiegen. Und jetzt ist dieser faszinierende Moment, an dem noch offen ist, ob etwas wirklich beschädigt ist – und wenn, dann was.
Kandidaten, die sich anbieten: Die Meinungs-, Satire- oder Pressefreiheit in Deutschland. Das Selbstbild Deutschlands oder Europas oder des ganzen Abendlandes als souveräne, mächtige, freie Gesellschaft. Angela Merkel, Jan Böhmermann, Recep Tayyip Erdoğan. Wir.
Alle schauen gerade neugierig an sich herab, wo denn diese Wunde aufklafft, die das Schmäh-Video Böhmermanns geschlagen hat. Dass es eine derartige Wunde gibt, wird außer Zweifel gestellt. Denn Europas Öffentlichkeit war zuletzt schon ein eingebildeter Kranker mit hohem Aufregungsfieber. Und nun haben wir dank Böhmermann endlich das Symptom zur eingebildeten Krankheit. Die ist voll ausgebrochen: Jetzt wird allen Ernstes diskutiert, ob wir unsere Meinungsfreiheit gegen „die Türken“ verteidigen müssen oder Europa „ausgeliefert“ ist oder Satire verboten gehört, oder ob all die Vorurteile, die wir gerne pflegen, wahr geworden sind.
Hereingefallen!
Nur dadurch wurde ein Video, das gesammelte Vorurteile aufzählt, zum Gradmesser unserer Verfasstheit und Verfassung. Denn Böhmermann hat uns gemeint, und wir sind hereingefallen. Die eigentliche Kunst des Satirikers ist, unsere defensive, unsouveräne, unsichere Reaktion vorzuführen. Dass sich prominente Künstler und unprominente Bürger auf Böhmermanns Seite stellen; die Medienmacher die Pressefreiheit noch höher halten als sonst; dass selbst ein No-na-net-Satz der Kanzlerin zur großen Bedeutung der Meinungsfreiheit derart aufgeregt behandelt wird, als wäre damit etwas Umstrittenes gesagt, das ist ja eh schön und richtig so. Aber gleichzeitig das eigentliche Alarmsignal in dieser Affäre.
Es zeigt: Wir müssen uns selbst schon ordentlich umschauen, wo all diese Werte geblieben sind. Wir setzen, wenn nicht gerade Erdoğan das dankbare Feindbild macht, selbst gerne auf lautstarke Männer und einfache Antworten und Einschränkungen und Grenzen. Böhmermann hat uns erinnert, wohin das führen kann.
Merkel selbst hat es jetzt in der Hand, diesen Moment des Innehaltens zu beenden: Sie muss zustimmen, ob Böhmermann verfolgt wird. Und dann? Dann passiert das, was wir zulassen. Es kann schon sein, dass Böhmermann gegen dieses uralte deutsche Beleidigungsgesetz verstoßen hat. Na und? Dann soll er ein paar symbolische Euro Geldstrafe zahlen, und dann wird das doofe Gesetz abgeschafft. Deutlicher kann man nicht feststellen, dass die Meinungsfreiheit im heutigen Deutschland mehr wert ist als früher. Das wäre die souveräne Reaktion auf das selbstgemachte Schlamassel. Und heilsam.