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Sex-Fasten: Was bringt der bewusste Verzicht?

Ein Jahr kein Sex, und das noch dazu freiwillig? Was für viele unvorstellbar ist, hat der 30-jährige Drehbuchautor Tom Young durchgezogen: In einem viel beachteten Essay in der Washington Post berichtete er Anfang 2017 von seinem „Jahr ohne Sex“. Durch die Abstinenz wollte er eine „romantische und emotionale Basis für eine Langzeitbeziehung“ schaffen. Zu oft, schreibt der Single-Mann, würde Sex den Blick auf unsere wahren emotionalen Bedürfnisse vernebeln.

Etwa zur selben Zeit fasste die Künstlerin Molly Soda denselben Entschluss. Auch sie hatte keinen festen Partner, stellte aber fest, dass sie oft nur aus Langeweile mit jemandem schlief, um sich abzulenken – eine „ungesunde“ Entwicklung, die sie durch den selbst auferlegten Sex-Entzug stoppen möchte, dokumentierte sie im Magazin Vice.

Neuer Puritanismus?

In Zeiten des sexuellen Überflusses, in denen ein schnelles Tête à Tête oft nur einen Tinder-Swipe entfernt ist, Gratis-Pornos allzeit verfügbar sind und Sadomaso-Romanzen die Bestsellerlisten fluten, zeichnet sich nun ein Gegentrend ab: Menschen verzichten für einen bestimmten Zeitraum bewusst auf Geschlechtsverkehr wie andere auf Zucker oder Alkohol. Weil sie wie Tom Single sind und hoffen, auf diesem Weg die wahre Liebe zu finden. Oder weil sie die Leidenschaft in einer langjährigen Ehe neu entfachen wollen. Motto: Je verbotener, desto interessanter. In den USA hat die "NoFap"-Bewegung großen Zulauf, eine Art Selbsthilfegruppe für jene, die ihren Pornokonsum und ihre Masturbationsgewohnheiten nicht mehr unter Kontrolle haben. 90 Tage, so die Herausforderung, dürfen die "Fapstronauts" nicht Hand anlegen; dann sind sie von ihrer Sucht geheilt.

Auch eine Reihe Prominenter bekannten sich in jüngster Vergangenheit zur bewussten Enthaltsamkeit: Supermodel Miranda Kerr etwa überraschte mit der Aussage, dass sie und ihr Verlobter, Snapchat-Gründer Evan Spiegel, mit dem Sex bis nach der Hochzeit warten wollen. (Anm.: Inzwischen sind die beiden verheiratet und erwarten ein Kind.) Rockstar Lenny Kravitz offenbarte bereits 2008, dass er sich für seine nächste Ehe aufsparen wolle. (Anm.: Er ist bis heute nicht verheiratet - ob er sein Vorhaben weiter durchzieht, ist nicht bekannt.) Und sogar Lady Gaga, sonst nicht gerade als prüde bekannter Popstar, riet Frauen, so lange wie möglich mit Sex zu warten oder - wie sie zu dieser Zeit - überhaupt darauf zu verzichten: "Es ist nicht mehr cool, die ganze Zeit Sex zu haben. Es ist cooler, stark und unabhängig zu sein."

Spielart der Sexualität

Beziehungscoach Dominik Borde beobachtet einen Trend zur sexuellen Abstinenz bei Paaren. „Bei der Sex-Diät geht es darum, das Verlangen aufeinander zu steigern, indem man eine bestimmte, vordefinierte Zeit auf Sex verzichtet“, erklärt er. Ist die Luft draußen, arbeiten Psychologen häufig mit der sogenannten Paradoxen Intervention, also das Verbot dessen, was eigentlich erreicht werden soll: Mehr oder bewussteren Sex. „Küssen, Flirten oder auch eine zärtliche Berührung sind erlaubt. Es geht darum, Leidenschaft zu entfachen und den anderen bewusst wahrzunehmen.“ Das könne durchaus therapeutische Effekte haben, so der Experte. „Wenn man den anderen bewusst spürt, ohne dass Sex das Ziel ist, fällt der Druck weg, performen zu müssen. Man kann die eigenen Bedürfnisse und die eigene Erregung intensiver wahrnehmen.“

Für Andrea Kucera, Psychologin und Sexualtherapeutin, stellt die Sex-Diät eine Spielvariante der gemeinsamen Sexualität dar: „Dies kann zu einer Luststeigerung beitragen, Gefühle können wieder intensiver erlebt werden.“ In einer Zeit des Überflusses, so die Expertin, könne der Verzicht auf Sexualität zudem zu einer inneren Einkehr und einer Beschäftigung mit sich selbst führen. Und zu einer Antwort auf die Frage: Wie geht es mir, wenn ich in meinem Leben bewusst auf Sex verzichte?

Kein Wundermittel

Für Aufsehen sorgte vor einigen Jahren die britische Datingexpertin Kate Taylor mit ihrem Buch "Not Tonight, Mr Right", in dem sie Frauen nahelegte, die ersten sechs Monate nicht mit einem Mann ins Bett zu gehen. Die Initiative "Wahre Liebe wartet", deutscher Ableger der amerikanischen Keuschheitsbewegung, propagiert Enthaltsamkeit bis zur Hochzeitsnacht und verzeichnet in Deutschland nach eigenen Angaben bereits 10.000 Mitglieder zwischen 16 und 20 Jahren.

Kann Warten (lassen) wirklich helfen, die große Liebe zu finden? "Der Hintergedanke macht durchaus Sinn", sagt Borde. "Es geht darum, eine Beziehung langsam zu starten, um den Reiz des Werbens, der Begierde. Auch der hormonelle Aspekt spielt eine Rolle: Bei Frauen steigt nach dem Sex das Bindungshormon Oxytocin an, während es bei Männern abnimmt. Deshalb sind Frauen, die nach dem Grundsatz leben 'Sei leicht anzusprechen, aber nicht leicht zu haben' meist erfolgreicher, ihren Traummann zu finden."

Zu große Hoffnungen sollte man in die Sex-Diät aber nicht setzen, betont der Experte. "Auf Sex zu verzichten ist kein Garant, dass eine Beziehung funktioniert. Umgekehrt muss Sex beim ersten Date nicht heißen, dass es ein Fehlstart war." Viele Paare würden den Fehler machen, nach der Sex-Pause überhöhte Erwartungen zu haben. "Dabei weiß man, dass das erste Mal nie das beste ist, erst mit der Erfahrung kommt der Genuss - das gilt auch nach einer längeren Auszeit." Es bestehe die Gefahr, dass Langzeitpaare nach der gewollten Durststrecke nicht mehr zueinander finden.

Drehbuchautor Tom Young hat seine einjährige Sex-Pause als (datender) Single jedenfalls nicht bereut. In den zwölf Monaten habe er gelernt, dass Sex nicht immer das Wichtigste ist, wenn man jemanden kennenlernt - und er es auch ohne aushalten kann, wenn es darauf ankommt. In Zukunft wolle er mit seiner Sexualität bewusster umgehen, so sein Vorsatz. Ganz verzichten könne er nämlich nicht - eben so wie andere bei Zucker oder Alkohol.