Maracanã - zwischen Traum und Trauma
Es duftet verführerisch an der Lanchonete im Estádio do Maracanã. Nach starkem Kaffee, salzigem Popcorn und frisch gepresstem Orangensaft. "Uma coxinha de frango e uma Coca, por favor." – "Claro", antwortet der Imbissverkäufer freundlich und fährt mit seiner Greifzange in die prall gefüllte Auslage. Doch anstatt eines der populären frittierten Bällchen mit Hühnerfleisch zu servieren, wendet sich sein Blick plötzlich Richtung Eingang, und die Zange greift ins Leere. "Olha – schau mal dort – Zico", flüstert der Verkäufer seiner Kollegin kichernd zu. Das köstliche Hühnerbällchen ist längst vergessen. Und das Cola sowieso. Am liebsten würden die beiden jetzt loslaufen und ein Foto mit ihrem Idol machen. Aber das ist natürlich gerade schlecht.
Kleiner Hahn
"O Galinho de Quintino – der kleine Hahn aus Quintino": Diesen Spitznamen hatten ihm die Fans von Flamengo schnell verpasst. Quintino Bocaiuva ist ein bescheidener Vorort im Norden von Rio de Janeiro; dort wurde Zico geboren. Elegant und mutig durch die gegnerischen Abwehrreihen tänzelnd, mit beidfüßigem Abschluss – so lieben ihn seine Fans. Zicos Freistöße sind unerreicht: Nie mit voller Kraft ausgeführt, sondern mit viel Gefühl über die Mauer gezirkelt, gerne in den Winkel. So mancher Torwart blieb noch Sekunden verdattert im Kasten stehen und fragte sich, wie dieser Ball ins Netz gehen konnte und nicht auf die Tribüne. Fast sein ganzes Leben lang spielte Zico für Flamengo, von 1971 bis 1983 und von 1985 bis 1989. Kein Wunder, dass man einen wie ihn am Zuckerhut verehrt wie keinen Zweiten. Zico, das ist Flamengo. Flamengo, das ist der beliebteste Verein Brasiliens und der aktuelle Cupsieger.
Auch für die Nationalmannschaft erzielte Zico 66 Tore in 88 Spielen. Weltmeister wurde er allerdings nie. "Na und? Das ändert überhaupt gar nichts an meinem Leben. Davon bin ich nicht abhängig. Titel hin oder her", antwortet der Mann mit dem kleinen Bauchansatz fast trotzig, vor allem, wenn man ihn auf die bittere WM-Niederlage 1982 gegen Italien anspricht. Was danach passiert sei? "Wir haben die Koffer gepackt und sind abgereist", sagt er und legt die Stirn in Falten.
Viel schlimmer sei ohnehin die Pleite 1950 im eigenen Land im Finale gegen Uruguay gewesen. "Mein Vater war damals live dabei und so geschockt, dass er nie wieder ins Maracanã gegangen ist. Er hat mich dort nie spielen sehen. Oder er hat es mir nie verraten", sagt Zico. 1950, das sei eine sehr spezielle WM gewesen, die erste nach dem Weltkrieg. "Und für uns begann damit die Tragödie. Die Tragödie des Fußballs", sagt Zico.
Große Veränderung
Das heutige Maracanã hat nicht mehr viel zu tun mit dem Stadion, in dem Zico vor weit über 100.000 Fans auflief. Im Zuge der rund 450 Millionen Euro teuren Modernisierung wurde ein gesamter Rang abgetragen, das Stadion bietet heute noch Platz für rund 75.000 Zuschauer. Unglaublich: Das Endspiel 1950 hatten noch mehr als 200.000 Menschen gesehen.
"Trotzdem", sagt Zico, "das Maracanã hat überhaupt nichts von seiner Magie eingebüßt. Der Umbau war mehr als nötig." Von mahagonifarbenen Umkleidekabinen, Luxuslogen mit Klimaanlage und Multimedia-Bildschirmen, die jeden Heimkino-Besitzer neidisch machen, konnte man zu Zicos aktiver Zeit nur träumen. Heute wünschen sich viele die Stimmung von damals zurück. Es bleibt auf den Rängen oft ruhig, wenn das Maracanã nicht ausverkauft ist. Und das ist es in der Meisterschaft nur bei den ganz wichtigen Spielen.
"Ich bin mir zu 85 Prozent sicher, dass Brasilien Weltmeister wird", sagt Zico – das war freilich vor dem bitteren 1:7 im Halbfinale gegen Deutschland. Das Team von Joachim Löw zählte für den Trainer, der Japan zur WM nach Deutschland führte, zwar zu den Mitfavoriten, "allerdings hat noch nie eine europäische Mannschaft etwas in Südamerika gewinnen können." Nachsatz: "Das neue Trikot der Deutschen, das gefällt mir übrigens sehr sehr gut", witzelt "Galinho de Quintino", dessen "Kamm" mittlerweile deutlich schütterer und grau geworden ist, über die Flamengo-Farben des Auswärtstrikots. Kritiker sagen, dass sich der DFB beim Gastgeber damit etwas übertrieben anbiedern würde.
Großer Schwachsinn
Und die Proteste des vergangenen Jahres? "Die hatten nichts mit der WM zu tun. Wir sind fünfmaliger Weltmeister – und wir sollen gegen die Copa sein? Das ist absoluter Blödsinn", findet Zico. Sein Lachen weicht in diesen Sekunden einem nachdenklichen Gesicht. Er gestikuliert viel, redet sich sogar ein wenig in Rage. "Vielleicht haben viele Brasilianer einfach nicht damit gerechnet, dass da so viel auf sie zukommt. Natürlich kann so ein Ereignis nicht nur privat finanziert werden." Zico muss los.
Noch schnell ein paar Bälle signieren, ein paar Umarmungen, dann steigt er in den Fahrstuhl. Selbstverständlich verlässt einer wie er das Maracanã nicht unbeobachtet. Aber er kommt ja bald wieder. Vielleicht haben seine Fans aus der Lanchonete dann ja Glück. Nun erst mal eine köstliche Coxinha de frango. "Bom apetite, senhor."