„Wir tragen Frankreichs Leibchen, die Weißen sind beruhigt“
Von Danny Leder
Seit Frankreichs Team das Halbfinale gewonnen hat - und in Erwartung des heutigen Finalspiels - befindet sich das Land in einer Art Schwebezustand. Niemand glaubt, dass die sozialen Probleme, Spannungen und Ängste, die an Frankreich zehren, über Nacht, durch den trügerischen Zufall eines Spiels, geringer geworden sind. Aber die meisten Menschen wollen sich jetzt diese gemeinsame euphorisierende Auszeit gönnen – das gilt ebenso für Jugendliche aus afrikanischen und arabischen Familien in den Pariser Vororten, aus denen etliche Champions stammen, wie für Bewohner der Speckgürtel und Kleinstädte, von denen viele Nationalistin Marine Le Pen wählen.
Man will den Fauxpas vermeiden, der die Magie des Augenblicks zerstören könnte, und nimmt Rücksicht auf die unausgesprochenen, aber vermuteten Gefühle der anderen. Meine Frau und ich versäumten die Übertragung des Halbfinalspiels, weil wir einen von langer Hand geplanten Theaterbesuch absolvierten. Als wir im Taxi heimfuhren, während tausende feiernde junge Leute die Straßen säumten, fragte meine Frau den – ebenfalls im Takt hupenden – Fahrer: „Wer war der Torschütze?“. Der Taxler, ein Mann dunkler Hautfarbe, blickte kurz in den Rückspiegel und sagte: „Ein Abwehrspieler“. Wohlgemerkt: er nannte nicht den Namen des Spielers, den in Kamerun geborenen Samuel Umtiti, der mit seinem Köpfler gegen Belgien Frankreichs ins Finale befördert hatte. Er wollte wohl dem hell häutigen älteren Ehepaar auf dem Rücksitz nicht zu viel zumuten.
Identitätsfragen
In Vermutungen schwelgt man auch im Vorort Bobigny, auf der „Dalle“, dem typischen breitflächigen Beton-Hof, umzäunt von 20-stöckigen Sozialbauten aus den 1950er Jahren. „Sie wollen wissen, ob wir zu Frankreich halten“, nimmt ein junger Mann vor einem Halal-Imbiss-Stand die – wiederum vermutete – Frage des Journalisten vorweg: „Aber wir sind Franzosen. Muslime, aber Franzosen. Wenn wir nach Paris auf die Champs-Elysée zum Feiern fahren und Leibchen der französischen Mannschaft tragen, sind die Weißen beruhigt. Das errate ich an ihren Blicken.“
Ein neben ihm stehender Bursch gibt zu bedenken: „Die Franzosen, ich mein jetzt die anderen, die die uns nicht kennen, können Angst vor uns haben, und das verstehen wir. Wir haben ja auch Angst vor den Terroristen, wenn wir nach Paris fahren.“ Unversehens bricht ein Fast-Streit unter den Anwesenden über die Frage aus, ob nun „Araber oder Schwarze“ weniger negativ abgestempelt und bei der Auswahl für die Nationalelf jeweils begünstigt oder benachteiligt würden.
Um die Ecke, in einem abbruchreifen Bürogebäude, teilen sich der arabische Kulturverein „Al Madina“ und ein ehemals kommunistischer Arbeiter-Sportverband, die FSGT, das letzte noch gefahrlos begehbare Stockwerk. Die FSGT hält den Jubel der Staatsführung um die Spitzensportler aus den Vororten für „Heuchelei“, weil „Präsident Emmanuel Macron die Subventionen für den Volkssport, eine der letzten Barrieren gegen Verwahrlosung und Radikalisierung, zusammenstreichen lässt“. Aber ein in der FSGT jobbender, angehender Sportmanager, der 26-jährige Mathieu Despeyroux, glaubt an eine „sehr positive Dynamik“ durch die Fussball-WM: „Die jungen Leute aus den Vororten nützen die Gelegenheit, um sich zumindest eine Zeitlang Paris anzueignen. Dann sagen sie, nicht ohne Stolz, wir haben mit den Parisern gefeiert.“
"Die Leute sind ernüchtert"
Ist also eine ähnliche Interpretation zulässig wie beim umjubelten Siegeszug der französischen Elf unter Zinédine Zidane vor genau zwanzig Jahren in Paris? Damals wurde der Erfolg eines Frankreichs der vielfältigen Abstammungen gefeiert. Der Fußball-Sieg galt als Sinnbild eines gesellschaftlichen Durchbruchs, der in einem Slogan gipfelte: „La France black-blanc-beur“ (Schwarz-weiß-arabisch-stämmiges Frankreich).
Freilich: Seither gab es den Vormarsch der Rechtspartei „Front national“, den landesweiten Aufstand der Vororte-Jugend 2005, den islamistischen Terror, den oftmaligen Fortbestand der – ungeschriebenen – Benachteiligungen für Jobsucher, deren Vorfahren aus Nord- oder Schwarzafrika stammen.
„Die Leute sind ernüchtert“, analysiert der Pariser Kommunalpolitiker Laurent Sorel, der von einer französischen Karibikinsel stammt: „Aber in unserer Familie wussten wir schon immer, dass man einem schwarzen Sportler, wenn er Außergewöhnliches vollbringt, seine Hautfarbe nachsieht. Wenn er den Erwartungen nicht entspricht, kann er freilich schnell wieder zum Schwarzen werden.“