Sport/Fußball-WM

Toni Kroos: Deutschlands lautloser Dirigent

Auf einmal platzte es aus ihm heraus. Als hätte er sämtliche Wut seiner Karriere für diesen einen Moment gesammelt. Kaum hatte er den Rasen des Berliner Olympiastadions verlassen und das Licht der Fernsehkameras auf sich gespürt, donnerte er auch schon los: „Wir sind nicht so gut, wie uns immer eingeredet wird oder wie vielleicht auch einige von uns denken“, rief Toni Kroos.

Er meinte den amtierenden Weltmeister, die deutsche Nationalmannschaft – seine Mannschaft. Vor vier Jahren hatte sie alle mit ihrem Fußball verzückt. 7:1 gegen Brasilien. Und jetzt das. Diesmal verloren die Deutschen 0:1 gegen eben jene Brasilianer. Kroos war an diesem Märzabend nicht mehr zu halten. Sprach von „mangelndem Widerstand“ und „fehlendem Verantwortungsgefühl“ – scharfe Worte.

Toni Kroos ist nicht der Typ, der sich von seinen Emotionen mitreißen und treiben lässt. „Es ist definitiv nicht so, dass wir der absolute Favorit sind, der nach Russland fährt. Das war vorher Quatsch, das ist jetzt Quatsch. Aber jetzt sehen es vielleicht ein paar mehr so“, erklärte er.

Wenn die deutsche Nationalmannschaft am Sonntag gegen Mexiko in das Turnier startet, wird womöglich mancher an seine Worte denken. Der 28-Jährige hat zum vierten Mal die Champions League gewonnen, was vor ihm noch keinem Deutschen gelungen ist. Mehr noch: Kroos ist so etwas wie die Versicherung für die deutsche Nationalmannschaft – während bei allen anderen die Unsicherheit zumindest ein bisschen mitspielt.

Generalkritik

Wird Thomas Müller wirklich wieder so viele Tore schießen wie bei den Endrunden 2010 und 2014? Werden Manuel Neuer, Jérôme Boateng und Mats Hummels gesund sein und noch einmal eine uneinnehmbare Festung bilden können wie vor vier Jahren?

Nur bei Kroos stellt sich keiner mehr Fragen. Mit seiner Souveränität kann er jedes Spiel lenken und vielleicht sogar noch mehr. Für gewöhnlich mag Bundestrainer Joachim Löw es ganz und gar nicht, wenn Spieler eine solche Generalkritik üben. In diesem Fall aber gab er Toni Kroos uneingeschränkt recht.

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Seit den Rücktritten der Weltmeister Philipp Lahm, Miroslav Klose und Per Mertesacker ist Toni Kroos in den Mannschaftsrat aufgerückt. Er ist längst der heimliche Kapitän. Aber keiner wie die Herren Matthäus, Effenberg oder Ballack, die lautstark und gestenreich die Mannschaft führten und auf dem Platz mal gehörig dazwischenfuhren. Als Kroos am 3. März 2010 im Spiel gegen Argentinien in der Nationalelf debütierte, stand Michael Ballack noch auf dem Platz. Es sollte, was damals noch nicht absehbar war, seine letzte Partie gewesen sein.

Pass-Maschine

Auf Ballack folgte Philipp Lahm und mit ihm eine neue, eine andere Art des Führens, nicht mehr von oben herab. Vor allem habe Lahm sich als Kapitän nie so wichtig genommen, „das hat mir gefallen“, hat Kroos einmal gesagt. Mittlerweile ist Manuel Neuer Kapitän des Teams. Der 32-Jährige führt durch Ausstrahlung, durch Präsenz und Körpersprache. Aber er steht im Tor, etwas abseits des Geschehens.

Kroos wurde vom Boulevard schon einmal zur „Pass-Maschine“ ausgerufen. Was für ein hässliches Wort für diese Gabe, nur weil sie maschinenhafte Präzision aufweist. In Russland wird Kroos wieder mit Sami Khedira das Zentrum bilden. Kroos ist kleiner und schmächtiger als der Juventus-Profi, körperlich eher ein Durchschnittstyp.

Doch im Gegensatz zu Khedira scheint Kroos den Körper kaum zu brauchen. Ihn tragen Intuition und Technik, das Gefühl dafür, wo der Ball jetzt hin sollte. Es gibt nur wenige Spieler, die Schweres so leicht aussehen lassen können.

Privatmann

Und dann wirkt dieser Kroos erstaunlich stressresistent. Joachim Löw: „Toni kann das Spiel mit seiner Technik in richtige Bahnen lenken.“ Bei seinem Verein Real Madrid spielt er mit Cristiano Ronaldo zusammen, der nach außen alles überragt. Dass die meisten nur von Ronaldo reden, ist ihm ganz recht.

Sein Privatleben hält Kroos lieber privat. Über das, was dennoch bekannt ist, ließe sich etwa sagen: Verglichen mit Ronaldo führt Kroos ein beinah schon langweiliges Leben. Vor drei Jahren hat Toni Kroos, geboren in Greifswald, mit zwölf umgezogen nach Rostock, seine Jugendliebe geheiratet. Im Sommer wird der gemeinsame Sohn fünf, die Tochter zwei. In Madrid lebt Kroos im abgeschotteten Viertel La Finca in Pozuelo de Alarcón, wo viele Real-Stars wohnen.

Toni Kroos ist eineinhalb Wochen nach allen anderen Nationalspielern zur Mannschaft ins Trainingslager gestoßen, als es fast schon vorüber war. Der Bundestrainer hatte dem Champions-League-Gewinner Sonderurlaub genehmigt. Kroos solle mal für ein paar Tage nicht an Fußball denken. Das sei für ihn wichtiger als trainieren. Warum hat eigentlich nicht Toni Kroos die Binde am Arm, die doch nach wie vor als höchster Ausdruck genau dessen gilt, als eindeutige Würdigung, die auch noch der letzte Zuschauer versteht?

Gelassenheit

Kroos treibt diese Frage wohl nicht um. Es sei ihm nicht wichtig, für die Öffentlichkeit wichtig zu sein. „Ich will für die Mannschaft wichtig sein und für den Trainer.“ Kroos hat sich ein Stück Gelassenheit hinübergerettet in die laute, schrille und oft überkandidelte Welt des Fußballs. Dieser Mann taugt nicht fürs Posen, für die Inszenierung.

Dabei würde die ihre Wirkung wohl kaum verfehlen. Allein auf Facebook hat er zwölf Millionen Follower, auf Twitter knapp sieben und auf Instagram folgen ihm 17,3 Millionen. Damit zählt er online zu den Nationalspielern mit den meisten Anhängern. Die Kanäle bedient er selbst.

In Rostock trainierte einst sein Vater Roland ihn und seinen jüngeren Bruder Felix, der heute Spieler beim 1. FC Union Berlin ist. Bereits mit 16 wechselte Toni Kroos zum FC Bayern. Dort spielte er von 2006 an – mit einem eineinhalbjährigen Ausflug nach Leverkusen – bis 2014 und war wesentlicher Bestandteil jener Mannschaft, die 2013 das Triple aus Meisterschaft, Pokal und Champions League gewann.

Für die meisten Fußballer ist ein Engagement bei Bayern das Höchste der Gefühle. Doch es gibt Spieler, die noch einen Schritt weitergehen und von Real gerufen werden. Ex-Trainer Zinédine Zidane nannte Kroos einen Spieler „mit unglaublicher Ruhe am Ball und schnell im Kopf. Das ist selten.“

Gefühlsbetont

Als Kroos endlich zur Mannschaft gestoßen war im Teamcamp, wollten die Medienvertreter Hunderte Dinge von ihm wissen. Toni Kroos hatte dieses Mal wohltuende für sie. Qualitativ sehe er das jetzige Team auf Augenhöhe mit dem Weltmeister-Team von 2014. „Mit Ball sind wir fast stärker als 2014, wenn wir das ohne Ball auch hinbekommen, werden wir gute Chancen haben.“ Entscheidend werde sein, „ob wir dieses Gefühl entwickeln können wie 2014, dieses Gefühl, ganz, ganz schwer zu schlagen zu sein. Dieses Gefühl, immer die Möglichkeit zu haben, ein Tor zu machen.“

Bestimmt war der Sommer 2014 der Sommer seines Lebens. Er wurde Weltmeister und wechselte zum größten Fußballverein der Welt. Vielleicht aber steht er nun im Zenit seiner Schaffenskraft. Er sei in seiner Spielweise gereift, sagt Joachim Löw: „Immer belastbar, ohne dass er Müdigkeit zeigt.“ Derjenige, der die Mannschaft führe, vor allem nie Nerven zeige. „Das alles macht ihn besonders.“

MICHAEL ROSENTRITT