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Eine Lin-Lin-Situation

Am 4. Februar brach der Wahnsinn aus. Linsanity heißt die Krankheit offiziell (von insanity, englisch für Wahnsinn). Der 23-jährige, bis dahin völlig unbekannte Sohn taiwanesischer Einwanderer, stellte die Basketball-Welt auf den Kopf, er erzielte beim 99:92-Sieg seiner New York Knicks über die New Jersey Nets 25 Punkte und steuerte fünf Rebounds und sieben Assists bei.

Im nächsten Spiel machte der 1,91 Meter große Point Guard (Aufbauspieler) 38 Punkte gegen die L.A. Lakers, drei Tage später folgten 27 Punkte gegen die Toronto Raptors. In seinen ersten fünf Spielen in der Startaufstellung erzielte er 136 Punkte – so viele wie nie ein Spieler in der NBA zuvor. Praktisch über Nacht wurde Lin zum Superstar.

Schneller Aufstieg

Der Harvard-Absolvent kam auf die Titelseite von Sports Illustrated, sein Trikot ist das bestverkaufte der gesamten NBA, auf Twitter hat er bereits fast 700.000 Follower. Jeremy Lin wurde zu "Jeremy Win", sein Aufstieg ist "lincredible". Lin selbst bleibt bescheiden. Bei Interviews denkt er zuerst nach – bevor er in gewählten Worten eine Antwort gibt.

"Ich glaube, das ist ein Wunder", sagt er über seinen kometenhaften Aufstieg. "Ich danke Gott für diesen ganzen Wahnsinn."

Ein Wahnsinn, der auch über die Grenzen der USA schwappt. In Taiwan, der Heimat von Lins Eltern, steigerte sich die Begeisterung zur Hysterie. Auch dort brechen Lins Merchandising-Produkte alle Rekorde, die Sportseiten überschlagen sich mit Superlativen – und die Basketball-Plätze des Landes sind wieder voll.

Die Lin-Story ist deshalb so packend, weil ihr Held bis vor zwei Monaten ein Versager war. Beim NBA-Draft 2010 wollte ihn kein Verein, danach holten ihn die Golden State Warriors – wo er kaum Geld verdiente und sich auch nicht durchsetzen konnte. Er wohnte in keiner Villa, sondern schlief auf der Couch bei seinem Bruder.

Große Chance

In seinem neuen Team, den New York Knicks, war er nur Ersatzspieler des Ersatzspielers eines Ersatzspielers. Jederzeit musste er mit seiner Entlassung rechnen. Selbst sein Trainer Mike D’Antoni hatte schon den Glauben an ihn verloren und gab ihm am 4. Februar nur deshalb eine Chance, weil so viele Spieler verletzt ausgefallen waren. Lin nützte sie perfekt.

Doch er zeigte damit auch, wie wenig Talent, Können und Training nützen, wenn nicht etwas Glück dabei ist. Lin war immer schon talentiert, seine körperlichen Werte sollen überragend gewesen sein, seine Technik hat er sich nicht erst in den vergangenen zwei Monaten angeeignet.Doch er hatte keine Gelegenheit, sein Können zu zeigen.

Kein Scout hat ihn entdeckt, kein Verein wollte ihn haben. Ein bekannter Sportredakteur sagte im Wall Street Journal: "Ich habe Lin für einen Versager gehalten. Eigentlich sollte man mich feuern."

Denn am 4. Februar 2012 hatte Lin das Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen zu sein, wo er seine beste Leistung abrufen konnte. Sein Spiel ist aggressiv und respektlos – und passt somit gar nicht ins Bild, das Amerikaner von der asiatischen Minderheit im Land haben. Doch genau dafür wird er geliebt und verehrt.

 

Amerikanischer Traum

Als Heilsbringer wird er nicht mehr gesehen seit den ersten Niederlagen, bei denen auch er auf dem Platz gestanden ist. Für viele asiatischstämmige Amerikaner ist er aber zum Symbol geworden: dafür, dass auch sie jetzt ein Wörtchen mitreden dürfen; dafür, dass auch sie langsam ihren Platz im Mittelpunkt der Gesellschaft finden.

Denn Lin ist der erste in den USA geborene Asiate, der es in eine der großen Sportligen geschafft hat. Herb Tam, der Kurator des Museums der Chinesen in Amerika, sagte: "Für uns bedeutet Lin in etwa das, was Barack Obama für die afroamerikanische Bevölkerung bedeutet."

Auch seinem Team hat der Superstar anscheinend neues Selbstvertrauen gegeben. Die ruhmreichen New York Knicks, die zuletzt zur Lachnummer verkommen waren, haben wieder das Siegen gelernt: Am Mittwoch­abend musste Lin wegen Knieproblemen vom Spielfeldrand zuschauen, in Jogginghose und Sweatshirt – seine Knicks deklassierten Orlando mit 108:86.

NBA: 30 Teams spielen um den Titel

Tradition: Die National Basketball Association (NBA) wurde 1946 gegründet. Sie besteht aus 30 Teams, eines (Toronto Raptors) ist in Kanada beheimatet. Aktueller Champion sind die Dallas Mavericks.

Rekorde: Die Boston Celtics holten 17 Titel, so viele wie kein anderes Team. Michael Jordan (Chicago Bulls) hält mit 30,1 Punkten/Spiel den höchsten NBA-Karriere-Punkteschnitt. Wilt Chamberlain (Philadelphia Warriors) warf 1962 gegen die New York Knicks 100 Punkte. Jeremy Lin erzielte 136 Punkte in seinen ersten fünf Spielen