Protest gegen Putin brach alle Rekorde
Von Stefan Schocher
Es ist der Druck der Straße, der in der russischen Führung eindeutige Bruchlinien sichtbar werden lässt. Und auch drei Wochen nach der umstrittenen Parlamentswahl wird dieser Druck nicht geringer – ganz im Gegenteil: Am Samstag gingen im ganzen Land die Menschen wieder in Massen auf die Straße, um ihrem Ärger über die Obrigkeiten Luft zu machen. Der 24. Dezember ist im orthodoxen Ritus kein Feiertag.
Es sollten die bisher größten Demos gegen Putin werden. Alleine in Moskau demonstrierten laut Opposition weit mehr als 100.000 Menschen bei eisigen Temperaturen und Schneefall. Die Behörden sprachen von 29.000 Teilnehmern. Erwartet wurde, dass auch der letzte sowjetische Staatschef Michail Gorbatschow teilnehmen würde – nebst zahlreichen Intellektuellen, Politikern und Künstlern. So wie Menschen wie Alexej Kudrin, der bei der Demo in Moskau Neuwahlen forderte.
Kudrin war bis Ende September Finanzminister im Kabinett von Premier Wladimir Putin gewesen. Nach einem öffentlich ausgetragenen Streit mit Präsident Dmitri Medwedew war er ausgeschieden. In einem offenen Brief an die Zeitung Kommersant erklärte Kudrin vor der Kundgebung am Samstag, er teile „die negativen Gefühle“ der Demonstranten, was das Ergebnis der Parlamentswahl angehe, und forderte einen Dialog zwischen Regierung und Gesellschaft. Nur so könne es einen friedlichen Wandel geben und ein gewaltsamer Umsturz verhindert werden.
Seit der Wahl am 4. Dezember erlebt ganz Russland eine beispiellose Welle von Protesten. Die Kreml-Partei Geeintes Russland hatte nur knapp 50 Prozent der Stimmen erhalten – und das bei einer Wahl, die von schweren Manipulierungsvorwürfen überschattet war. Die Protestbewegung, die immer mehr Teile der Gesellschaft in sich vereint, fordert vor allem eine Annullierung des Votums, Neuwahlen, die Absetzung des Chefs der Wahlkommission sowie demokratische Reformen.
Tabubruch
Michail Gorbatschow (80), Friedensnobelpreisträger und letzter sowjetischer Präsident, der sich mit den Protestierenden solidarisch erklärte, hat Putin in einen Radiointerview zum Rücktritt aufgefordert. Er beging damit einem Tabubruch in der russischen Gesellschaft: Bisher hat noch kein Ex-Präsident den Rücktritt eines Machthabers gefordert.
Berater fordern Rücktritt
Bei seiner Rede zur Lage der Nation hatte Medwedew zuletzt Reformen versprochen – jener Präsident, der den bei der Opposition verhassten langjährigen Leiter der Wahlkommission, Wladmir Tschurow, nach dem Votum als „Zauberer“ gelobt hatte. Sogar der vom Kreml besetze Menschenrechtsrat – ein an sich der Führung sehr loyales beratendes Gremium – legt Tschurow bereits den Rücktritt nahe, fordert die rasche Umsetzung demokratischer Reformen und Neuwahlen. Zahlreiche Berichte gebe es über im Voraus ausgefüllte Wahlzettel, umgeschriebene Protokolle sowie den unrechtmäßigen Ausschluss unabhängiger Beobachter. Geführt habe das zu „massenhaftem Misstrauen“ in das Wahlergebnis. Das Parlament sei diskreditiert. So hieß es in einer Stellungnahme des Rates.
Tschurow hatte die Parlamentswahl als die „beste aller Zeiten“ bezeichnet. Sich in seiner Position um Unparteilichkeit zu bemühen, war ihm nie ein großes Anliegen: „Putin hat immer recht“, sagte er einmal. Pläne für seinen Ruhestand hat er aber bereits. Ein Buch will er nach eigenen Worten schreiben: ein Wahlmärchen für Kinder.