Le Pen nutzt Stimmung gegen EU
Ich bin ein Industrieller des Jahrmarkts. Wir sind seit Generationen Karussell-Betreiber“, präsentiert sich Carl Toquard, 31. Er zählt zu den Gästen des „Debatten-Dinners“, zu dem die Rechtspartei Front National in einem Hotel in Rouen, in der Normandie, geladen hat, um ihre Kandidatin für die Präsidentenwahlen, Marine Le Pen, zu unterstützen. „Frankreich geht es schlecht“, klagt Toquard: „Unsere Industrie stirbt, weil die
EU unsere Zollgrenzen abgeschafft hat, während China unseren Käse mit 90 Prozent Einfuhrsteuer belegt. Und Renault schließt hier seine Werke und öffnet sie in Marokko.“ Die Auswirkungen sieht Toquard bei seinen Kunden: „Früher haben die Eltern ihren Kindern alles erlaubt: Enten-Fischen, Karussell-Fahren und Zuckerwatte. Jetzt müssen sie sich für ein einziges Vergnügen entscheiden.“
Nach dem Dinner – es gab Kaninchenragout – bestärkt der Stargast aus Paris alle Ängste. Florian Philippot, 30, Wahlkampfleiter von Marine Le Pen, befürchtet, dass „das Kaninchen halal war“. Marine Le Pen beschuldigt die Fleischindustrie, sie würde „allen Franzosen Halal-Speisen aufzwingen“, also Fleisch von Tieren, die nach muslimischen Ritus geschächtet wurden.
Auch sonst sieht Philippot vieles düster: „Man treibt uns in dieselbe Tragödie wie Griechenland. Die EU ist ein Völkergefängnis. Hinter der Budget-Disziplin steckt das Europa à la Schlague“ – damit meint er nicht Schlagobers, sondern das deutsche Wort „Schlag“. Der Begriff steht bei alten Franzosen für die Grausamkeit der KZ-Wächter und wird von Le Pen verwendet, um gegen den Kurs von Angela Merkel in der EU Stimmung zu machen.
Tauschgeschäfte
Gilbert Saunier, pensionierter Werftarbeiter, war einst SP-Wähler, dann stimmte er für den bürgerlichen Sarkozy. „Jetzt müssen wir etwas Neues versuchen. Meine Rente ist gesunken. Die Jungen finden keine Arbeit, die Werften haben geschlossen.“
In seiner Siedlung greift man auf alte Lösungen zurück. Viele haben Gärten, man tauscht Gemüse gegen Eier und Hühner, manchmal gibt es Größeres: „Nicht jedes Kalb wird der Behörde gemeldet, einige werden geheim geschlachtet.“ Verärgert ist Saunier darüber, dass sein Sohn, ein gelernter Koch, kein Restaurant eröffnen konnte. „Die Banken haben ihm den Kredit verweigert. Ich frage mich, wieso die Ausländer Restaurants öffnen können?“
„Wir haben nichts gegen Ausländer, die sich integrieren“, versichert Jacques Gaillard, 66, ein Intimus der Familie Le Pen: „Ich war mit der Tochter eines Arabers verheiratet. Aber wir erleben eine Invasion.“ Gerade erst habe er einer Frührentnerin vergeblich Sozialhilfe verschaffen wollen: „Die Ausländer schnappen unseren Leuten die Wohnungen weg, in den Spitälern werden sie gratis behandelt, während unsereins sich den Zahnarzt nicht mehr leisten kann.“ Es ist ein privates Gespräch, und da rastet Gaillard plötzlich aus: „Unsere Zivilisation ist bedroht. Die Afrikaner sind ja lieb, aber sie sollen auf ihren Kokospalmen bleiben.“
„Die Eliten“, so Gaillard, „holen die Migranten ins Land und verlagern die Fabriken ins Ausland. In der Normandie wird Leinen angebaut, früher wurde es hier verarbeitet. Jetzt wird es nach China geliefert und dort verwebt.“
Bisher freilich widersteht die Normandie den rechten Unglückspropheten. Rouen, von einer linken Rathausmehrheit verwaltet, präsentiert sich als blühende Stadt. Matthieu Charlionnet, Stadtrat für Gesundheit, bestätigt allerdings, dass immer mehr Menschen aus Kostengründen auf ärztliche Behandlung verzichten.
„Das Leben wird schwerer. Aber wir warnen davor, Le Pen auf den Leim zu gehen. Diese Leute irren sich in ihrem Zorn. Le Pen will Gräben unter den Ärmsten aufreißen.“ Charlionnet, der bei den Wahlen den Linkssozialisten Jean-Luc Melenchon unterstützt, glaubt freilich, dass man sich dem „Diktat der Finanz widersetzen muss, um die wachsende Ungleichheit zu stoppen“. Der pensionierte Arbeiter Saunier hatte am Vorabend, nach dem Dinner mit dem
Front National, unsicher geklungen: „Man kann Leute verführen, hoffentlich laufen wir da nicht gegen eine Wand. Weil am Ende zahlen die Armen drauf.“
Von ganz links bekommt Le Pen kräftig Kontra
Der islamistische Serienkiller von Toulouse, Mohammed Merah, hat
Marine Le Pen keinen Auftrieb verliehen. Die Rechtspopulistin, die noch im Vorjahr in Umfragen auf 20 Prozent kam, stagniert unter 16 Prozent.
Sie versuchte zwar die Terrorangst auszuschlachten: „Wie viele Mohammed Merahs kommen täglich in Frankreich in Flugzeugen und Schiffen, voll beladen mit Migranten, an? Wie viele befinden sich unter den Kindern nicht assimilierter Migranten?“ Aber viele Franzosen empfanden die Gleichsetzung zwischen Migration und dem Killer als eine „absurde Verallgemeinerung“, wie es Präsident Sarkozy formulierte – nicht zuletzt weil sich ja auch unter den Terroropfern zwei arabischstämmige Soldaten befanden.
Sarkozy verspricht eine drastische Verringerung der Einwanderung. Damit ist es ihm gelungen, Le Pen ein paar Prozentpunkte wieder bei Wählern abzujagen, denen der Austritt aus Euro und EU, den Le Pen befürwortet, nicht geheuer ist.
Gleichzeitig ist Le Pen unter Protestwählern und wütenden Arbeitern ein möglicherweise überlegener Rivale in der Person des Linkssozialisten Jean-Luc Melenchon erwachsen. Der populäre Tribun der „Linksfront“, dessen Versammlungen die größten Teilnehmerzahlen aufweisen, ist kometenhaft von fünf Prozent im Vorjahr auf das Umfrage-Niveau von Le Pen aufgestiegen. Melenchon hat sich geschworen, die „französische Politik von dieser Hass-Predigerin zu befreien“.