Politik/Inland

Werner Faymann: "Kerneuropa der Nettozahler"

KURIER: Herr Bundeskanzler, die EU will, dass die Türkei Flüchtlinge an der Ausreise hindert und dort betreut. Das soll drei Milliarden Euro in zwei Jahren kosten oder doch noch mehr?

Werner Faymann: Die Türkei will jetzt drei Milliarden jährlich, um das Geld in Schulen und Unterkünfte zu investieren. Wir werden uns da irgendwo in der Mitte treffen. Derzeit leben 2,5 Millionen Flüchtlinge in der Türkei.

Das heißt, die EU muss wohl mehr als 1,5 Milliarden Euro pro Jahr zahlen?

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Wir warten jetzt die Reaktion der Türkei ab. Wichtig ist: Das Geld soll in erster Linie für Quartiere und Schulen ausgegeben werden. Wobei die EU jede Ausgabe erst tätigt, wenn das entsprechende Projekt geklärt ist.

Was will der türkische präsident Erdogan außer Geld noch?

Eine generelle Debatte über eine engere Zusammenarbeit der EU mit der Türkei.

Die EU-Verhandlungen mit der Türkei müssen also plötzlich wieder ernst genommen werden, unter dem Druck der Flüchtlingsströme?

Österreich hat einen Beschluss, dass es vor einem Beitritt der Türkei zur EU eine Volksabstimmung geben müsste.

Die sicherlich mit Nein ausginge, oder?

Ja, nach heutigem Stand. Auch ich würde unter gegebenen Umständen mit Nein stimmen. Deswegen wollten wir auch über andere Formen der Zusammenarbeit sprechen, eine privilegierte Partnerschaft. Wir wollen ein intensiveres Verhältnis zur Türkei.

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Die Türkei unter Erdogan wird weniger demokratisch, islamischer, die Meinungsfreiheit ist gefährdet.

Wir können in einem Land außerhalb der EU nicht einfach etwas durchsetzen, so wie wir das wollen.

Erdogan will ja auch eine Erleichterung für EU-Visa.

Wir haben dafür einen Fahrplan. Im Gegenzug erwartet die EU eine vollständige Umsetzung des Rückübernahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei und einen gemeinsamen Schutz der Außengrenzen.

Sie bereiten den EU-Türkei-Gipfel mit Erdogan mit einigen anderen Staaten vor, Deutschland, Holland, Schweden und Finnland. Ist das der erste Schritt zu einem Kerneuropa, das künftig enger zusammenarbeiten soll?

Wir sehen, dass Flüchtlinge in diejenigen EU-Länder wollen, die mehr Wohlstand und mehr Beschäftigung und auch bessere Gesundheitssysteme haben. Gerade diese fünf Länder sind in der EU Nettozahler. Wir zahlen also dafür, dass auch in anderen Ländern der Lebensstandard gehoben wird. Jetzt verlangen wir, dass wir beim Flüchtlingsthema nicht alleingelassen werden.

Also das Kerneuropa der Nettozahler ...

... wird sich auf die Füße stellen, wir fordern Solidarität ein. Und der zweite Schritt ist, dass wir den Ländern, die nicht solidarisch sind, sagen, dass sie weniger aus den EU-Geldtöpfen bekommen. Wir werden nicht zuschauen, dass sich Staaten wegducken.

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Auffällig ist, dass Frankreich nicht dabei ist.

Frankreich ist in die Gespräche eingebunden, ebenso wie Italien und Griechenland. Auch Premierminister David Cameron wird das unterstützen.

Kanzlerin Merkel hat gesagt, dass das Schengen-System der offenen Grenzen nur überleben wird, wenn es eine faire Verteilung der Flüchtlinge gibt.

Wenn wir wollen, dass Österreichs Exportwirtschaft auch in Zukunft funktioniert, können wir nicht gleichzeitig Zäune bauen. Das wäre das Ende der Reisefreiheit. Unsere Exportwirtschaft und eine Million Arbeitsplätze sind davon betroffen, wenn es wieder Grenzen gibt. Gleichzeitig müssen wir uns aber an den Außengrenzen schützen.

Aber wenn das nur innerhalb von fünf oder sechs Staaten funktioniert, dann wird es das Europa der zwei Geschwindigkeiten geben, mit einem Kern-Europa. Wird es dann auch zwei Währungen geben?

Nein, das wünsche ich mir nicht. Wir wollen exportieren und haben nichts davon, wenn andere eine schwächere Währung hätten.

Also auch ein Europa der zwei Geschwindigkeiten sollte nur eine Währung haben?

Ja, wir profitieren vom Euro.

Geben Sie einer möglichen militärischen Koalition zwischen Frankreich, USA, Russland und der Türkei eine Chance, in Syrien Frieden zu schaffen?

Das ist unverzichtbar im Kampf gegen den IS, auch wenn diese gemeinsame Aufklärungsarbeit für die USA und Russland ungewöhnlich ist. Aber man kann den IS nicht effizient bekämpfen, wenn es innerhalb der Staatengemeinschaft Gegensätze gibt.

Wenn Putin in Syrien ein Partner des Westens wird, führt das schneller zu einer Aufhebung der Sanktionen wegen der Ukraine-Krise?

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Die Zusammenarbeit mit Russland im Rahmen der Terrorbekämpfung ist sehr wichtig. Die Annexion der Krim haben die Sanktionen gegen Russland gerechtfertigt. Dass jetzt in der EU über eine Normalisierung der Beziehungen zu Russland nachgedacht wird, befürworte ich.

Das will auch Deutschlands Kanzlerin Angela Merkel?

Sie und andere Regierungschefs sagen immer, dass es um den Abschluss des Minsker Friedensprozesses geht. Je schneller, desto besser.

Zurück nach Österreich: Durch die Zuwanderung wird der Islam bei uns wichtiger. Jetzt haben wir schon eine Diskussion über die Gefahr von Parallelgesellschaften und über Imame, die einen gewalttätigen Islam predigen. Wird hier bei uns genug kontrolliert?

Die Trennung von Kirche und Staat, die Zusammenarbeit der Religionsgemeinschaften funktioniert bei uns. Friedlich und respektvoll, europaweit vorbildlich. Die Trennung von Kirche und Staat, Freiheit, Demokratie und Menschenrechte müssen für alle gelten, die jetzt zu uns kommen. Bei Gesetzesverletzungen, etwa Zwangsverheiratungen, muss der Staat konsequent durchgreifen. Und der Staat muss bei den Kindern ansetzen. Je früher wir diese Werte erklären, umso stärker sind wir. Integration heißt, dass wir auf Basis unserer Wertehaltung und unserer Gesetze dafür sorgen, dass es Gleichberechtigung für alle und Ablehnung jeglicher Form von Gewalt gibt.

Soll es Frauen im öffentlichen Dienst untersagt werden, ein Kopftuch zu tragen, wie das in Frankreich und in Teilen Deutschlands der Fall ist?

Ich setze weniger auf Verbote, sondern auf Überzeugungs- und Bewusstseinsarbeit.

Sollen Lehrerinnen wirklich mit Kopftuch unterrichten?

Ich möchte gern die Diskussion darüber führen, aber ich möchte das nicht von oben herab diktieren. Klar ist: Alles was mit Gewalt und Zwang zu tun hat, ist strikt abzulehnen.