Kocher zu Sozialleistungen: "Mütter und Frauen sind tabu"
Sollen Menschen, die Teilzeit arbeiten, geringere Sozialleistungen erhalten? Arbeitsminister Martin Kocher (ÖVP) deutete das im KURIER-Interview am Montag an. "In Österreich wird bei Sozial- und Familienleistungen wenig unterschieden, ob jemand 20 oder 38 Stunden arbeitet. Wenn Menschen freiwillig weniger arbeiten, dann gibt es weniger Grund, Sozialleistungen zu zahlen", sagte Kocher zum KURIER. Mit "freiwillig" seien aber nicht Frauen mit Betreuungspflichten gemeint.
Dennoch: Die Reaktionen bei SPÖ, Gewerkschaften und auch dem grünen Koalitionspartner fielen teils heftig aus. Auch für Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) stehen Kürzungen bestehender Sozialleistungen nicht zur Diskussion. Und Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) stellte klar, dass Mütter nicht betroffen sein können
Kocher versuchte seine Aussage am Mittwoch beim Ministerrat noch einmal zu kontextualisieren. Es sei ihm nicht darum gegangen, Sozialleistungen und Familienleistungen zu kürzen, meinte der Minister: "Es war nie die Intention, dass Frauen oder Müttern etwas weggenommen wird. Mütter und Frauen sind tabu." Wen er dann gemeint habe? Beispielsweise junge Menschen, die keine Betreuungspflichten hätten und dennoch freiwillig Teilzeit arbeiten, so Kocher.
Teilzeit in Österreich sehr attraktiv
Die Frage, welche Sozialleistungen er genau gemeint habe, beantwortete Kocher folgendermaßen: "Es geht um eine Gesamtdiskussion und nicht um Einzelmaßnahmen." Und natürlich gebe es im österreichischen System steuerliche und abgabenmäßige Bestimmungen, die Teilzeit reizvoll machen.
Stimmt das? Der wirtschaftsliberale Thinktank Agenda Austria hat auf Basis von OECD-Daten errechnet: Wer in Österreich Teilzeit arbeitet, und die Wochenarbeitszeit um 50 Prozent ausweitet, dessen Nettolohn steigt um 32,4 Prozent. Zum Vergleich: Sogar in den Hochsteuerländern Schweden und Dänemark bekommt man um 43,8 Prozent mehr. Wenn es darum geht, Vollzeit statt Teilzeit zu arbeiten, zählt Österreich bei den steuerlichen Abgaben in Europa zu den absoluten Schlusslichtern.
"Wir stehen vor dem Problem, dass unser Fachkräfte- und Arbeitskräftebedarf steigen wird", sagte Kocher. Es müsse deshalb attraktiver werden, von Teilzeit auf Vollzeit zu wechseln. "Das ist eine Voraussetzung dafür, dass Österreich in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiterhin diesen Wohlstand genießen und sein Sozialsystem finanzieren kann", sagte Kocher. Er halte das für sehr wichtig und hoffe, dass diese Debatte nun unemotional und sachlich geführt werde. Denn, so Kocher: Leistung müsse sich lohnen.
AMS begrüßt Debatte
Die nun losgetretene Diskussion um Änderungen bei der Teilzeit wird vom wirtschaftsliberalen Forschungsinstitut Eco Austria und AMS-Chef Johannes Kopf jedenfalls begrüßt. "Ziel einer solchen Diskussion sollte die Erhöhung der Frauenerwerbsbeteiligung und gleichmäßigere Arbeitszeitverteilung sein. Zusätzlich braucht es Ö-weites (österreichweites) ganztägiges Kinderbetreuungsangebot", twitterte Kopf gestern.
Weiters meinte er: "Es wäre schon gut, zumindest die Bevorzugung von Teilzeitarbeit in unserem Abgaben- und Steuersystem zu überdenken. z.B. geringfügige Beschäftigung, danach relativ hoher Eingangssteuersatz bei relativ hohem Grundfreibetrag, AlVG Beitragsbefreiungen, Alleinverdienerabsetzbetrag." Kopf betonte aber auch, er spreche nicht von einer Benachteiligung der Teilzeitarbeit, sondern von der Abschaffung der Bevorzugung.
Monika Köppl-Turyna, Direktorin des wirtschaftsliberalen Forschungsinsituts Eco Austria, meinte heute im Ö1-Morgenjournal ebenfalls es gebe durchaus Stellschrauben, an denen gedreht werden könnte - wenn gleichzeitig auch die Kinderbetreuung ausgebaut wird. Und sie gab zu bedenken, dass die hohe Teilzeitquote es schwieriger mache, das Sozialsystem zu finanzieren.
"Demografisch bedingt haben wir immer weniger Arbeitskräfte. Wenn jetzt noch jeder Einzelne weniger arbeitet, wird das Arbeitsvolumen sinken. Das wird ein Problem für alle staatlichen Leistungen werden", sagte die Ökonomin. Weiters äußerte sie die Befürchtung, dass sich viele Teilzeitarbeitende nicht bewusst sind, welche negativen Auswirkungen dies auf ihre künftige Pensionshöhe hat.
Als Ansatzpunkte um den Anreiz auf Vollzeit zu erhöhen nannte Köppl-Turyna Änderungen bei der Arbeitslosenversicherung, beim Steuereingangsgrenzsatz und den Negativsteuern. "Würde man an diesen Schrauben drehen, würde das mehr Leute zur Vollzeitarbeit bringen", glaubt sie.
Ein klarer Konter kam heute von Evelyn Regner, Vize-Präsidentin des EU-Parlaments. Sie bezeichnete den Vorschlag Kochers als "fast absurd". Die Sozialdemokratin verwies auf die EU-Teilzeitrichtlinie, die ein Diskriminierungsverbot vorsieht: "Menschen, die Teilzeit beschäftigt sind, dürfen nicht benachteiligt werden gegenüber Menschen, die Vollzeit beschäftigt sind." Von Kocher forderte Regner, keine europarechtlichen Verstöße diesbezüglich zuzulassen. Der Großteil der Teilzeitbeschäftigten seien Frauen, das wäre eine "indirekte Diskriminierung". Um mehr Anreize für Vollzeitarbeit zu schaffen, müsste etwa der Anteil der Kinderbetreuung für die ganz jungen Kinder erhöht werden, so die SPÖ-Politikerin.