Kern-Festspiele in Kreisky-Villa
Von Johanna Hager
Christian Kern ist seit einem Jahr Kanzler. Für die erhoffte Wiederwahl im Herbst erhält er Unterstützung von Robert Misik, linker Publizist und Weggefährte seit 30 Jahren. Über Kern hat Misik ein "politisches Porträt" verfasst. Porträtierter und Autor diskutierten am Dienstag Abend im Bruno Kreisky Forum in jener Villa, in der einst der langjährige SPÖ-Kanzler wohnte.
Coldplay oder Depeche Mode hört er sich an, um abzuschalten. Um auf andere Gedanken zu kommen, setzt er sich nach vier Stunden Tennis noch aufs Rad. Das sind seine "Exzesse. Voller Karacho, das ist der Normalfall. Wenn andere sagen: Bist du deppert, das tu ich mir nicht mehr an – da sag ich: ,Geht schon’. Etwa beim Mountainbiken. Du steigst nicht ab, bis Du oben bist."
Es ist diese Anekdote über Kern, die zu Beginn des Buches steht und zur Metapher seiner Karriere gereichen kann; zumindest gewinnt man während der Lektüre des Buches diesen Eindruck. Misik gibt darin Einblicke in des Kanzlers Wesen, Werdegang und Weltbild.
Es geht weniger detailreich um die letzten Tage als ÖBB-Chef und die ersten als SPÖ-Chef, dafür umso ausführlicher um die Ideologie und Visionen, die der neue Mann an der Spitze der Sozialdemokratie umsetzen will.
Kern-Kenner Misik vertieft passagenweise die bereits bekannten Visionen des "Plan A", skizziert Problemfelder wie Migration, Sicherheit oder EU und zitiert hierfür aus den vielen Gesprächen, die er mit Kern führte.
Pizza und Rotwein
Oft haben diese Unterredungen im Bundeskanzleramt stattgefunden oder am großen Holztisch in Kerns Wohnzimmer. Oft nächtens – vor dem Amtsantritt Pizza aus dem Pappkarton essend – manchmal Rotwein trinkend und sich hernach an Kerns Worte erinnernd: "Wir können einfach erste Reihe fußfrei sitzen bleiben und zusehen, wie alles den Bach runtergeht. Oder wir können versuchen, es zu verhindern."
Verhindern will Misik, wie er einleitend schreibt, dass das Porträt zu einer Hagiografie wird. An manchen Stellen schrammt es undistanziert und zu nah am Pathos nur knapp daran vorbei.
Nie ein Party-Animal
Sozialisiert als Arbeiterkind der 70er-Jahre in Wien Simmering, geht es ein Mal im Jahr mit Eltern und Schwester Andrea zum Skiurlaub. Zu mehr reicht das Geld des Vaters, der später, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, eine Taxilizenz erwirbt und der Mutter, die als Sekretärin arbeitet und den Sohn zum Lernen animiert, nicht.
Das Meer sieht der Fußball-, Tennis- und Basketballspieler zum ersten Mal mit 18 in Jesolo. Vier Jahre später wird Kern, Student der Soziologie und Politikwissenschaft, Vater und bald Alleinerzieher von Sohn Nikolaus (er geriet jüngst mit einem Tweet über Sebastian Kurz in die Kritik). Die Trennung zur Kindsmutter ist nicht von Dauer, zwei weitere Söhne werden geboren ehe es zum endgültigen Beziehungsende kommt.
Kern macht währenddessen Karriere: Er wird Wiener Spitzenkandidat des VSStÖ (Verband sozialistischer Studentinnen Österreichs), Wirtschaftsjournalist und 1991 Assistent des damaligen SPÖ-Staatssekretärs Peter Kostelka. "Das Mörder-Party-Animal war ich nie", erzählt Kern über seine Vergangenheit und damit viel über sein Wesen.
Die weiteren Stationen sind bekannt: Zuerst Aufstieg bis in den Vorstand des Verbundkonzerns, dann ab 2010 ÖBB-Chef. Zur Verbund-Zeit sagt Kern: "Das Bemerkenswerte ist ja, dass mein Aufstieg im Unternehmen in die schwarz-blaue Ära fällt," sagt Kern und: "Ich hab ihm Nachhinein gesehen, offenbar ein gutes Timing gehabt".
Bahn-Aufsichtsratschefin Brigitte Ederer attestiert Kern eine "blitzschnelle Auffassungsgabe", für Vorvorgänger und Berater Alfred Gusenbauer hat er "einfach eine positive Ausstrahlung", ist er "ein Sympathikus".
Kern, laut Eigendefinition "normalerweise eine Frohnatur", erklärt die Karriereschritte seines Lebens – im Buch an mehreren Stellen in abgewandelter Form nachlesbar – so: "Ich habe mich gegen das Herz und für den Kopf entschieden".
Robert Misik: Christian Kern. Ein politisches Porträt. Residenz-Verlag, 192 Seiten, 22 Euro.