Politik/Inland

Gewalt hinter Gittern

Der neue Justizminister, wer auch immer das nach der Wahl sein wird, sitzt auf einer politischen Bombe": Mit der Bombe meint der langjährige Gefängnischef und Kriminologie-Professor Wolfgang Gratz den Strafvollzug, speziell den Jugendstrafvollzug.

Denn die vor Kurzem bekannt gewordene Vergewaltigung eines 14-jährigen Buben in der Justizanstalt Wien-Josefstadt ist kein Einzelfall. Solche Gewalt-Exzesse im Gefängnis sind an der Tagesordnung, und die nun angeschlagenen Alarmglocken müssten eigentlich seit Jahren Sturm läuten.

Zunehmende Gewalt

Schon 2010 warnten die Wiener Jugendrichter Beate Matschnig und Norbert Gerstberger offenbar ungehört vor der zunehmenden Gewalt in den überbelegten Zellen, in denen vier und mehr Jugendliche oft bis zu 22 Stunden durchgehend sich selbst überlassen bleiben. Es häuften sich Prozesse gegen junge Straftäter, die 14-, 15-jährige Zellengenossen – ganz genau wie jetzt – mit Besenstielen malträtiert und sie gezwungen hatten, Urin zu trinken. Auch damals schon beklagten die Richter, dass Sozialpädagogen für die jungen Häftlinge fehlten, die seit der Schließung des Jugendgerichtshofes (im Jahr 2003) im Erwachsenen-Untersuchungsgefängnis untergebracht sind. Der KURIER berichtete darüber ausführlich.

Die damalige Justizministerin Claudia Bandion-Ortner reagierte mit dem Plan, alle minderjährigen U-Häftlinge sofort in Österreichs einzige Jugendvollzugsanstalt Gerasdorf zu transferieren – passiert ist das nicht.

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Die Kinder- und Jugendanwaltschaft Wien präsentierte im Justizministerium ein Projekt, ein von Sozialarbeitern betreutes Camp für junge Straftäter als Alternative zu Verurteilung und Haft – umgesetzt wurde es nie.

"Die Sache mit den Besenstielen ist ein Ritual"

Das Ludwig-Boltzmann-Institut erhob in Kooperation mit dem „Weißen Ring“ in einer Anfang dieses Jahres präsentierten Studie, dass die Haftbedingungen in der Josefstadt das Klima der Gewalt fördern und die im Umgang mit Jugendlichen nicht geschulten Beamten zu spät oder unangemessen mit Drohungen und demütigenden Strafen reagieren. Mittlerweile war Beatrix Karl Justizministerin geworden – geändert hat sich im Jugendstrafvollzug nichts.

„Die Sache mit den Besenstielen ist ein Ritual, das war absehbar, dass das wieder passiert“, sagt Jugendanwältin Monika Pinterits. Ihrer Einschätzung nach steckt die massive Gewaltbereitschaft in zehn Prozent der jungen Häftlinge, die meist Mehrfachtäter sind. Man müsse kein Fachmann sein, um sie herauszufiltern und nicht gemeinsam in eine Zelle zu sperren.

„Aber in der Josefstadt haben sie es ja sogar zusammengebracht, ausgerechnet einen Wehrdienstverweigerer mit Gottfried Küssel (Neonazi und Gründer einer Wehrsportgruppe) zusammen in eine Zelle zu legen“, sagt Strafvollzugsexperte Wolfgang Gratz. Er ist Mitglied der Kriminalpolitischen Initiative, die seit Langem Alternativen zur Haft vorschlägt.

Ohne Gitter

„Die überfüllte Menschenfabrik Josefstadt ist der ungeeignetste Ort für Jugendliche“, sagt Gratz; er denkt stattdessen an die von Sozialpädagogen geführten Wohngemeinschaften ohne Gitterstäbe nach Schweizer Vorbild. Ganz ohne Bewachung? „Intensive Betreuung ist eine Form der Bewachung“, sagt Gratz.

Im Kanton Zürich gibt es anstelle von Staatsanwälten Jugendanwälte. Diese betreuen schwierige Kinder von den Pflegschaftsmaßnahmen bis zur Aufarbeitung von Kriminalität. Ein privater Verein von Sozialpädagogen (ähnlich wie bei uns der Bewährungshilfe-Verein „Neustart“) führt an Stelle einer Jugendstrafanstalt eine Jugendanstalt. Die Insassen dürfen sich nach einem festgelegten Tagesplan frei bewegen, zur Schule, zur Arbeit gehen. Und wenn sie sich verlieben und die Nacht außer Haus verbringen wollen, müssen sie ihren Betreuer anrufen. Ebenso, wenn sie in Schwierigkeiten geraten. Das klappt.

„Dort wird mit den Aggressionen gearbeitet und nicht nur darauf aufgepasst, dass sie nicht eskalieren“, sagt Andreas Zembaty von „Neustart“. Bei Gewaltausbrüchen in der Justizanstalt Josefstadt fährt die Einsatzgruppe im Kampfanzug dazwischen, damit wieder Ruhe herrscht. Freilich bloß an der Oberfläche.

Möglichst einzeln

In Österreich wäre es schon ein Erfolg, würde sich die Justizverwaltung an das Strafvollzugsgesetz halten. Das verlangt, dass nicht nur jugendliche Gefangene bei Tag so lang wie möglich in Gemeinschaft (mit sinnvoller Beschäftigung) und nachts (zum Schutz) möglichst einzeln unterzubringen sind. Die Ministerin auf Abruf Beatrix Karl (siehe oben) plant – als Teil ihres am Freitag präsentierten 25-Punkte-Pakets – ein neues Gefängnis für Jugendliche, mit Zwei-Personen-Zellen. Fortschritt? Gratz: „Das ist nicht einmal das gesetzlich geforderte Niveau.“

126 Jugendliche sind eingesperrt

U-Haft und Strafhaft: Derzeit befinden sich in Österreich 126 Jugendliche (14 bis 18 Jahre) hinter Gittern, 116 Burschen und zehn Mädchen. Davon sitzen 65 in U-Haft, 55 in Strafhaft, sechs in einer psychiatrischen Anstalt. Die Gefangenen verteilen sich auf die Josefstadt (28), Gerasdorf (28) und andere Gefängnisse. Dazu kommen rund 430 junge Erwachsene (18 bis 21).

Spitzenplatz: In einer europaweiten Statistik nimmt Österreich beim Anteil der jugendlichen Häftlinge den sechsten Platz ein: 1,6 Prozent aller Gefangenen sind unter 18. Zum Vergleich: Türkei 1,7 Prozent, Deutschland 1,4 Prozent, Großbritannien 0,8 Prozent.

Die Tage von Justizministerin Beatrix Karl dürften gezählt sein. Selbst Menschen, die der ÖVP-Politikerin wohlgesonnen sind, bezeichnen ihre öffentlichen Aussagen zu den Missbrauchsaffären ("Strafvollzug ist kein Paradies") als "unsensibel" oder "unerträglich".

Nach der Nationalratswahl am 29. September muss voraussichtlich also ein neuer Justizminister gesucht werden. Welche Fähigkeiten muss der/die ideale Ressortchef/in mitbringen? Soll er oder sie parteiunabhängig sein? Der KURIER fragte Experten und Politiker.

Deren einhelliges Urteil: Ob der Minister parteiunabhängig ist oder nicht, ist sekundär. „Beides hat Vor- und Nachteile“, meint etwa Helmut Fuchs, Ordinarius für Strafrecht an der Uni Wien. Barbara Helige, einst Vorsitzende der Richtervereinigung, sagt: „Parteiunabhängigkeit wäre wichtig, weil ja nach wie vor das Weisungsrecht besteht, aber ich würde einen Generalstaatsanwalt als obersten Weisungsgeber präferieren.“ Dann könnte der Minister auch einer Partei angehören.

Streitthema Weisungsrecht

Derzeit hat die Ministerin das letzte Wort, wenn es um „Anklage oder Einstellung eines Verfahrens“ geht. Aktuell ist das in der Causa Faymann (Inseraten-Affäre) der Fall. „Hätte die Ministerin die Weisungskompetenz nicht, würde viel von dem Misstrauen, das letztlich die ganze Justiz trifft, wegfallen“, meint Helige. Die einstige Grünen-Justizsprecherin und Ex-Volksanwältin Terezija Stoisits sieht das genauso: „Allein die Tatsache, dass die Ministerin das Weisungsrecht hat, erweckt den Anschein, dass sie es ideologisch nutzen kann.“ Daher plädiert Stoisits wie Helige und Gerhard Jarosch, Präsident der Vereinigung der Staatsanwälte, für einen Generalstaatsanwalt – eine Person, die vom Na­tionalrat für eine lange Periode (z. B. zehn Jahre) gewählt werden sollte – ohne Möglichkeit zur Wiederwahl. SPÖ-Justizsprecher Hannes Jarolim ist ebenfalls dafür. Ein Bundesstaatsanwalt sollte aber von einer breiten Mehrheit („mindestens zwei Drittel der Abgeordneten“) unterstützt werden.

Strafrechtsexperte Fuchs würde das Weisungsrecht hingegen beim Minister belassen: „Weisungen müssen ohnedies schriftlich erteilt werden – und sind daher im Akt.“ Der Nachteil bei einem Generalstaatsanwalt wäre, „dass er nicht abgewählt werden kann“. Gegen einen Minister könne im Parlament ein Misstrauensantrag eingebracht werden.

Welche Fähigkeiten sollte der neue Minister mitbringen? „Fachkenntnis ist natürlich wichtig, aber bei Weitem nicht die einzige Voraussetzung für den Job“, lautet die Antwort unisono. „Ein Justizminister braucht ein rechtspolitisches Gespür“, befindet Jarosch. Er müsse wahrnehmen, welche gesellschaftlichen Änderungen auch rechtliche Änderungen bedingen. Management-Qualitäten seien natürlich auch nötig: „Gute Rhetorik, Personalführung, Einfühlungsvermögen etc.“ Stoisits sagt, ein Justizminister müsse „entscheidungsfreudig, mutig und visionär sein“. Jarolim möchte einen Minister, „der gestalten will, durchsetzungsstark und ein guter Kommunikator ist“. Letzteres ist Karl definitiv nicht, befinden Insider. Die Ministerin sei durchaus sachlich kompetent und im Ressort großteils gut angeschrieben, aber ihre Medienarbeit sei stark verbesserungswürdig. Sie wirke bei Interviews unsicher und hart. „Dabei ist sie eine warmherzige und gescheite Person, bringt das aber nicht rüber.“ Ein anderer Karl-Kenner attestiert „mangelndes politisches Gespür“. Gute Öffentlichkeitsarbeit und politisches Feeling seien aber eine Voraussetzung für diesen Top-Job.

Wie beurteilt ÖVP-Justizsprecher Michael Ikrath die Parteikollegin? „Ich beteilige mich nicht an Spekulationen, ob Karl abgelöst wird – und wer ihr nachfolgen soll. Ich schätze ihre liberale Grundhaltung, weil ich sie teile. Ich habe mit ihr bestens zusammengearbeitet.“

Die Kooperation wird vermutlich trotzdem im Herbst ein Ende haben.