Politik/Inland

„Auf das Schlimmste gefasst“ - Leben im Kongo

Ein gellender Schrei. Ein schneller Blick. Eine Frau wirft sich in den Staub, auf alle viere. Sie robbt die Straße entlang. Weinen. Wehklagen. Wehrlose Blicke. „Ein Familienmitglied ist gestorben“, wird erklärt. „Das ist der Kongo.“

 

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Mindestens drei Menschen auf einem Motorrad oder Lastwagen. Frauen in High Heels mit Handtasche oder barfuß mit einem Huhn in der Hand. Auch das ist der Kongo. Auch das passiert binnen weniger Minuten und Meter.

 

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Man macht sich keine Vorstellungen. Von jenem Land, dessen Bevölkerung jährlich um rund 3 Prozent, dessen Wirtschaft heuer um 4,6 Prozent wächst. Vom flächenmäßig zweitgrößten Staat Afrikas, dessen Reichtum an seltenen Erden ein Fluch für die Bevölkerung ist.

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Kobalt & Cholera

Vom weltweit größten Gebiet an Kobalt-Reserven, das von Milizen kontrolliert wird, während der für Batterien essenzielle Rohstoff unter menschenwidrigen Bedingungen abgebaut wird. Vom Reichtum an Bodenschätzen, der bis dato nur China und Russland lockt, aber zögerlich sein lässt. Zu groß ist das Risiko, zu unsicher die Rechtslage.

 

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Von der Demokratischen Republik Kongo (DRC), die nach dem Afrikanischen Weltkrieg (1998-2003) und nach über fünf Jahrzehnten und Diktatoren wie Joseph Mobutu, Laurent-Désiré Kabila und dessen Sohn Joseph seit 2019 mit Felix Tshisekedi einen Oppositionspolitiker zum Präsidenten hat.

 

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Von der Präsidialrepublik, die Monate nach der Wahl immer noch keine Regierung hat, deren Präsidentenkür als Arrangement bezeichnet wird von Wohlwollenden, als Manipulation von Kritikern.

 

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Kongo? Syrien, Jemen, Somalia – das sind bekannte Länder, die Hilfe brauchen, aber DRC? Niemand denkt an DRC!“, sagt Joseph Inganji vom Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA). Inganji weiß, dass kaum jemand die DRC von der Republik Kongo (Kongo-Brazzaville) unterscheidet, geschweige denn, sich für diesen Teil Afrikas interessiert. Zumindest nicht aus humanitärer Sicht. Inganji spricht laut. Bestimmt. Beredt.

 

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Er spricht, ohne Umschweife. „Vergewaltigung ist ein Thema. Nicht nur in den Konfliktregionen im Osten. Nicht nur im Krieg.“

Ohne ein Hehl zu machen, wie prekär die Situation ist. „Wir haben Ebola, Masern, Cholera. Jedes Jahr eine Epidemie, weil der Staat nicht für das Volk sorgt.“

 

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Und er spricht, nicht ohne Caritas-Präsidenten Michael Landau und die mitreisenden Journalisten in die Pflicht zu nehmen „Sie sind von Europa bis hierhergekommen. Allein deshalb sind Sie Botschafter des Kongo.“

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„Herz der Finsternis“

Wer „hier“, in der 12 Millionen Einwohner zählenden Metropole Kinshasa ist, hat Monate auf ein Visum gewartet. Hat jedenfalls eine Gelbfieber-, bestenfalls eine Masern-Impfung, nimmt täglich Malaria-Prophylaxe und Desinfektionsgel – und hat trotz Vorbereitung kaum eine Ahnung, wie sich herausstellen wird.

 

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Nichts weiß der Besucher über die ehemalige belgische Kolonie, über die dereinst als „Kongoneger“ rassistisch verunglimpften Menschen Zentralafrikas und ihr Leben. Nichts – ehe er eine Vorahnung bekommt, weil er „hier“ ist.

Hier, wo Joseph Conrads Erzählung „Herz der Finsternis“ spielt.

Wo im Juni bei unter 30 Grad die „kalte Jahreszeit“ herrscht, die Kongolesen darob Pullover tragen.

 

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Wo über 1000 Mineralien und Metalle, Gold, Diamanten, Kupfer, Coltan im Erdreich verborgen sind.

Wo auf einer Fläche – 28-mal so groß wie Österreich – 80 Millionen Hektar urbares Land sind, hungern Menschen.

 

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Hier, inmitten tropischen Klimas leben 13 von über 80 Millionen Kongolesen in einer „schwierigen Ernährungssituation“ wie es heißt.

Hier, wo von Avocado bis Ananas, von Zitronen bis Zwiebeln alles gedeiht – da sind knapp sechs Millionen Kinder unter fünf Jahren chronisch unterernährt.

 

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Noch lebt Fathys Baby. Es ist das dritte Kind der 29-Jährigen, die auf einem Bett, einer Pritsche gleich, mit ihrem Jüngsten im Ernährungszentrum in Malweka wartet. Auf die Breiausgabe.


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Brei aus Polenta, Erdnuss, Raupen und Wasser, ohne den das acht Monate alte, kaum fünf Kilo schwere Kind mit der wegen Mangelernährung lila-blau gefärbten Haut tot wäre, wie die Krankenschwester sagt.

 

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Geld & Gelbfieber

Sie werden in Statistiken als Subsitenzbauern geführt. Sie betreiben Bedarfswirtschaft – essen, was sie ernten, um zu überleben. Etwas Ernte versuchen sie dennoch immer zu Geld zu machen und ernähren sich darob selbst einseitig – und damit schlecht.


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Für mehr ist meist die Anbaufläche zu klein, keine Gerätschaft vorhanden, die Vorratsmöglichkeit zu spärlich, die Ware zu verderblich. Für mehr gibt es keine Chance.

 

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Eine toxische Mixtur aus Konflikten (250 Ethnien und 150 bewaffnete militante Gruppen gibt es im Kongo. Knapp fünf Millionen sind im Landesinneren auf der Flucht.) und Korruption (Die Schattenwirtschaft beträgt 90 Prozent. Im Korruptionsindex ist DRC auf Platz 161 von 180.) ist der Grund.

 


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Die Auswirkungen von Krankheiten (2019 starben bereits 2000 Menschen an Ebola. 400 Kinder sterben täglich, die Hälfte davon an Malaria.) und des Klimas sind es zudem, die die Kongolesen in ihrem von Natur aus gegebenem Reichtum leiden, darben, sterben lassen.

 

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„Die Regenzeiten werden kürzer, die Temperaturen höher, die Ernten geringer“, zitiert Caritas-Präsident Landau Prognosen und zugleich den deutschen Entwicklungsminister Gerd Müller. Der mahnte bereits 2018: „Europa ist gerade dabei, Afrika als Chancenkontinent zu verpassen.“

 

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Auf die kleinsten Chancen aufmerksam zu machen, den verheerenden Kreislauf wo möglich zu durchbrechen, das ist Ansinnen von Organisationen wie der Caritas. Sei es via humanitärer Soforthilfe im Ernährungszentrum Malweka oder Entwicklungshilfe in der Landwirtschaft wie in Luozi.

 

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Wer eben dorthin gelangt, erahnt, was es heißt im Kongo zu leben. Am Kongo. Jenem mit 4374 km zweitlängsten Fluss Afrikas, der durch Nicholas Vachel Lindsays Gedicht und dessen Zitierung im „Club der toten Dichter“ bekannt wurde. „Denn ich sah den Kongo gurgeln durch die Nacht, wälzen durch die Wirrnis seine reife Pracht…“

 

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Hier wird sicht- und spürbar, wie besonders fruchtbar das Land – wie furchtbar beschwerlich das Leben sein kann.

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Musik & Macheten

Neun Autostunden sind für rund 300 Kilometer ins Landesinnere zu veranschlagen, weil nur 3000 von rund 15.000 Straßenkilometern asphaltiert sind. Die wöchentliche Zugverbindung gen Norden ist eingestellt.

 

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Die Post streikt seit Monaten; wohin sollte sie auch liefern und an wen? Die Ziegelhütten haben keine Adresse. Die Mehrheit hat keine Arbeit, keine Ausbildung. Die 65-jährige Witwe Antoinette ist, weil alphabetisiert, eine Ausnahme und erzählt von der Regel.

 

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Davon, dass einer ihrer Söhne trotz Schule keine Arbeit findet, weil es schlicht keine gibt.

Dass zwei Söhne weggezogen seien, eine Tochter verheiratet sei.


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Fünf Ziegen und zwei Macheten für die Landwirtschaft, sechs Säcke Zement für eine Hütte waren ihre Mitgift, erzählt Antoinette, die in einer kaum zehn Quadratmeter großen Hütte unter Bananenblättern lebt.

 

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Ohne Strom, ohne fließend Wasser. Wie alle hier im Dorf. „Für ein Blechdach sparte eine Nachbarin zehn Jahre.“

 

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Seit geraumer Zeit besitze ihr Sohn ein Handy, um damit Musik zu hören. Um damit zu telefonieren, müsse er ins nächste Dorf, wo es Empfang gibt. Und einen Arzt. Sonst gibt es nichts, was annähernd an westlichen Alltag erinnert.

 

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Gewaschen wird im Fluss, gekocht mit offenem Feuer, gemacht aus gesammeltem Holz. Müll wird am Straßenrand verbrannt, Räucherfisch neben verschweißter roter Wurst feilgeboten wird.

 

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Als Besucher steht man unter Beobachtung der Bevölkerung und ganz unverhohlen des Geheimdienstes. Und man beobachtet selbst. Die Gesichter, die Gemälden gleich, eine bemerkenswerte Distanziert- wie Ernsthaftigkeit ausstrahlen.


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Gelacht wird wenig, und wenn bei Musik oder einem Tor während des Afrika-Cup. „Das war früher anders“, sagt Missionarinnen Christi-Schwester Brigitta. Früher, das war zu Beginn ihrer Zeit im Kongo 1989. „Heute sind die Menschen müde von den Konflikten, vom Hunger und gleichzeitig schnell aufbrausend. Es liegt etwas in der Luft. Es kann jederzeit etwas passieren, wenn der Präsident nicht bald etwas tut.“

 

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Heute tut sich etwas. DRC begeht am 30. Juni seinen 59. Unabhängigkeitstag. Nach der Zukunft gefragt, sagt Joseph Inganji von OCHA: „Wir hoffen das Beste und sind auf das Schlimmste gefasst.“

Gefasst darauf, dass der von Bauern gerodete Urwald das weltweite Klima beeinflussen wird.

 

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Gefasst darauf, dass laut UN-Prognosen 2030 hier 120 Millionen Kongolesen leben und hungern werden. „Wenn wir nichts tun, werden wir Leichen zählen müssen“, sagt Caritas-Präsident Michael Landau. Er sagt nicht, ob er damit Kongolesen im Land meint oder jene, die sich auf den Weg nach Europa machen, flüchten werden.

Man muss sich eine Vorstellung machen.

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