"Da war mir klar, der Gerfried kommt nicht mehr zurück"
Von Birgit Braunrath
Sie waren schon unter dem Gipfel. Es hätte die erste Winterbesteigung des Hidden Peak (auch Gasherbrum I) werden sollen – und die erste Winterüberschreitung eines Achttausenders (Überschreitung heißt Aufstieg und Abstieg über unterschiedliche Routen), eine historische Pionierleistung. Dann brach der Kontakt ab.
Der Steirer Gerfried Göschl, der Schweizer Cedric Hählen und der Pakistani Nisar Hussain sind seit 9. März verschollen, irgendwo im ewigen Eis des Karakorum.
Heike Göschl, die Witwe des Expeditionsleiters, erwartet uns in Liezen zum Interview. Sie hat Kaffee gekocht, Gerfrieds Mutter hat Kuchen gebacken. Auf dem Kamin brennt eine Kerze für den Vermissten. Tochter Hannah ist im Kindergarten. Helena ist noch zu klein für den Kindergarten, Opa holt sie zum Spaziergang ab.
Heike Göschl hat gemeinsam mit dem Filmemacher Hans-Peter Stauber und dem "Bergwelten"-Team von Servus TV die Dokumentation über die Hidden-Peak-Winterexpedition fertiggestellt. Aus der geplanten Geschichte über einen Triumph des Höhenbergsteigens wurde ein berührendes Dokument mit dem Titel "Der letzte Weg" (zu sehen unter www.servustv.com in der "Mediathek"). Aus dem Anlass sprach Heike Göschl erstmals nach der Tragödie über ihren Verlust.
KURIER: Frau Göschl, wie geht es Ihnen jetzt, zweieinhalb Monate nach der Tragödie?
Heike Göschl: Ich versuche, nach vorn zu schauen, hin und wieder gelingt das schon. Es gibt schlimme Stunden, aber ich habe eine große Familie, die mir Halt gibt. Ich versuche, das Positive zu sehen, so wie ich es zehn Jahre von Gerfried gelernt habe.
War er stets optimistisch?
Er war ein gnadenloser Optimist. Es gab nichts, aus dem er nicht irgendetwas Positives herausgeholt hätte. Ich spüre, dass sich viel von seinem Optimismus auf mich übertragen hat.
Wie gehen Ihre Kinder mit dem Verlust um?
Die gehen relativ gut damit um, es könnte auch anders sein, denke ich oft. Helena ist noch zu klein, um die ganze Tragweite zu erfassen, sie wird im August zwei. Hannah wird im September sechs, sie redet darüber, sie teilt sich mit, und sie sagt es, wenn sie traurig ist.
Haben Sie ihnen von Anfang an die Wahrheit gesagt?
Ja, es wäre gar nicht anders gegangen. Hier war Ausnahmezustand. Kinder kriegen so etwas mit. Daher habe ich es Hannah sehr bald gesagt.
Wie sagt man seinem Kind so etwas?
Wie sagt man das? So, wie es ist. Sie hat es am Anfang nicht glauben wollen, weil ihr Papa ja immer zurückgekommen ist. Sie hat oft gesagt: "Mama, du wirst sehen, er geht da wieder runter." Mittlerweile hat sie sich für sich selbst eine Geschichte zurechtgelegt, eine schöne Geschichte, finde ich. Sie sagt: "Der Papa ist im Himmel, er ist mein Schutzengel und passt auf mich auf." Manchmal habe ich fast das Gefühl, dass sie mich tröstet.
Sie haben bisher kein Interview gegeben, erst jetzt, aus Anlass der "Servus-TV"-Dokumentation "Der letzte Weg" ...
Ich hatte kein Bedürfnis, mich öffentlich mitzuteilen. Alles, was ich sagen wollte, habe ich schriftlich gemacht, auf unserer Homepage (www.gerfriedgoeschl.at). Es geht ja hier nicht um mich.
Der Film hätte eine Sternstunde des Höhenbergsteigens dokumentieren sollen. Er zeigt Aufnahmen, die Ihr Mann und seine Bergkameraden noch selbst am Hidden Peak gedreht haben. Wann war für Sie klar, dass der Film trotz des tragischen Endes der Expedition fertiggestellt werden soll?
Eigentlich sehr bald. Denn ich weiß, wie wichtig es für Gerfried war. Und ich will das zur Erinnerung für unsere Kinder aufheben.
Ihr Mann sagt in dem Film: "Meine Frau ist der wichtigste Angelpunkt. Erst wenn ich sie überzeugen konnte, bin ich bereit, so ein Projekt anzugehen." War es tatsächlich so?
Ja, er hat mir alles genau erklärt, er hat meine Bedenken entkräftet. Ich habe ihm vertraut, ich wusste, dass er umdreht, wenn es zu gefährlich wird, das hat er oft getan. Ich habe mich eines Tages entschieden, ihn zu unterstützen, und mit der Zeit hat es mir Spaß gemacht. Denn Gerfried war ein Mensch, der alles, was ich gemacht habe, zu schätzen wusste. Vielleicht auch, weil er gesehen hat, wie schwierig die Bergsteigerei für unsere Beziehung ist. Aber er wollte es so.
"Er wollte es so." – Hadern Sie heute damit, dass es ihn immer wieder auf die 8000er zog, dass er gesagt hat: "Nach dem Berg ist vor dem Berg"?
Für ihn war es sein Leben, seine Arbeit, sein Hobby. Dieses letzte Projekt hat Jahre an Planung in Anspruch genommen. Er hat ständig in Bücher geschaut, Routen studiert, er war ein lebendes Lexikon. Oft haben Kollegen bei uns angerufen und gefragt: "Du, wie war das damals vor 25 Jahren?" Er hatte das alles im Kopf, er hatte jede Information gespeichert. So war er (sie lacht zum ersten Mal) .
Gehen Sie selbst auch in die Berge?
Also jetzt gerade nicht mehr. Aber davor schon. Wir haben es geliebt, gemeinsam hier irgendwo raufzugehen. Gerfried hat sich immer meinem Tempo angepasst.
Gerfrieds Vater Rainer hat in einem Interview gesagt, er selbst habe nie Rücksicht auf das Tempo seiner Söhne genommen, sie hätten "an ihn heranwachsen" müssen.
Ja, das hat Gerfried oft erzählt. Als Kind war’s schlimm für ihn. Sein Bruder war drei Jahre älter. Immer wenn sein Papa und sein Bruder gerastet haben, ist er gerade angekommen, wenn die beiden weitergegangen sind. Irgendwann ist er dann nicht mehr mitgegangen, weil es zu frustrierend für ihn war. Sein Papa konnte es damals nicht besser (sie lacht). Gerfried war das absolute Gegenteil, auch wegen seiner Ausbildung (er war Hauptschullehrer, Erlebnispädagoge, systemischer Jugendberater, Anm.) . Ihm war wichtig, sich dem Schwächsten anzupassen.
Er hat auch oft betont, wie wichtig Ehrlichkeit beim Bergsteigen ist, dass man Sauerstoff und Fixseile verwenden dürfe, das aber zugeben muss. Wie ging es ihm damit, dass andere Bergsteiger Gipfelsiege vortäuschten?
Wenn Sie auf die Geschichte mit dem Herrn Stangl und dem K 2 anspielen, muss ich etwas dazu sagen (Der sogenannte "Skyrunner" Christian Stangl gab im August 2010 an, den Gipfel des K 2 als erster Mensch seit 2008 und in Rekordzeit erreicht zu haben, doch das Gipfelfoto war gefälscht, Anm.): Ich habe damals das Bild gesehen und gesagt: "Gerfried, der war nicht auf dem Gipfel." Da wurde er böse und meinte: "Du spinnst doch. Das würde er nie sagen, wenn’s nicht so gewesen wäre!" Später hat er sich mit anderen Bergsteigern aus der ganze Welt unterhalten, die auch schon dort waren und ihre Zweifel hatten. Langsam wurde klar, dass es nicht stimmen konnte. Gerfried hat zu mir gesagt: "Ich sage nichts. Aber falls ich gefragt werde, lüge ich nicht." Und dann wurde er gefragt.
Zeitungen haben berichtet, Stangl hat zugegeben, dass er nicht auf dem Gipfel war ...
Und dann haben sich die beiden beim Trainieren hier in den Bergen getroffen.
Zufällig?
Ja zufällig. Sie sind ein Stück gemeinsam gegangen, sie kannten einander von Jugend an. Und dabei hat Stangl Gerfried die Schuld daran gegeben, dass alles aufgeflogen ist. Und dann hat er zu Gerfried gesagt: "Irgendwann wirst du elendig verrecken." Ein Wahnsinn. Wenn ich ihm heute mit dem Auto hier begegne, muss ich jedes Mal an diesen Satz denken. Es geht nicht in meinen Kopf, wie man so etwas sagen kann. Gerfried war ein Mensch, der jedem alles von Herzen gegönnt hat, das Wort Neid kannte er nicht.
Er war auch dafür bekannt, Rückschlägen rasch wegzustecken. "When going back makes sense, you are going ahead," meldete er trotz der Enttäuschung nach einem gescheiterten Gipfelversuch am "Hidden Peak" im Winter 2011. Wie ist er damals zurückgekommen?
So wie er immer zurückgekommen ist: positiv. So lange ich den Gerfried kenne, ist er nie frustriert heimgekommen. Er war immer sofort wieder voll Zuversicht und Tatendrang.
Erstaunlich ...
Ja, wenn ich beim Tennis verliere – oder verloren habe, jetzt hat sich mein Weltbild verschoben –, wenn ich verloren habe, war ich wütend und habe allen anderen die Schuld gegeben. Bei Gerfried hat es so etwas nie gegeben.
Als er nicht mehr zurückkam, gab es in Postings viele mitfühlende, aber auch kritische Stimmen. Wie gehen Sie damit um, wenn jemand sagt: "Was hat ein zweifacher Familienvater im Winter auf dem Hidden Peak zu suchen?"
Es stört mich nicht, wenn Menschen, die ich nicht kenne, ihre Meinung sagen oder schreiben.Das hat mich nie belastet. Anders wäre es, wenn Menschen, die mir nahestehen, das sagen.
Am 7. März haben Sie das letzte Mal mit Ihrem Mann telefoniert. Was hat er gesagt?
Er hat mich Donnerstagfrüh angerufen und gesagt, dass sie Richtung Gipfel gehen, dass sie müde sind und die Rucksäcke schwer sind. Er war zuversichtlich, und er hat gesagt, dass sie es schaffen. Ich soll mir keine Sorgen machen, er meldet sich wieder. Es hat nach Vorfreude auf den Gipfel geklungen.
19 Stunden später, Freitag, kam die letzte Funkmeldung ans Basislager: Die drei hatten den Gipfel noch nicht erreicht. Dann brach der Kontakt ab. Wann haben Sie geahnt, dass etwas nicht stimmt?
Am Samstag war ich schon aufgelöst und voller Angst. Am Sonntag hat mich Günther Unterberger besucht, er war mit Gerfried im Sommer auf dem Hidden Peak. Günther hat gesagt: "Der bleibt dort nicht oben, er geht runter, egal, wie das Wetter ist." Aber am Sonntagabend, da war mir klar, der Gerfried kommt nicht mehr zurück.
Wieso war Ihnen das klar?
Weil er immer zu mir gesagt hat: "Dort oben gibt es keine Rettung, keinen Hubschrauber, niemanden, der dich runterträgt. Du musst selbst runtergehen, oder du stirbst. " Am Samstag oder Sonntag gab es ein Wetterfenster, einige Stunden, in denen sie hätten absteigen können, wenn sie noch am Leben gewesen wären. Danach hatte ich zwar Hoffnung, aber mein Kopf hat mir etwas anderes gesagt.
Haben Sie Kontakt mit den anderen Familien?
Ja, die Eltern von Cedric und seine Freundin Michaela waren bei der Verabschiedung für Gerfried hier. Wir sind in engem Kontakt. Sie wollen im Sommer ins Hidden-Peak-Basislager gehen.
Werden Sie selbst eines Tages dorthin gehen?
Ganz sicher. Aber nicht in naher Zukunft. Meine Kinder sind noch zu klein.
Was ist Ihr Weg, Ihr Glaube, der Sie durch diese schwere Zeit führt?
Ich weiß es selbst nicht. Ich fühle mich derzeit so blockiert, dass ich es gar nicht sagen kann. Je länger das alles dauert, diese Gewissheit, desto schwieriger wird es für mich. Weil der Verlust so groß ist. Unser ganzes Leben ändert sich im Moment. Wohin es sich entwickelt? Ich weiß es nicht. Wir werden sehen.
Zur Person: Gerfried Göschl
Lebenslauf privat Geb. 1972 in Schladming, aufgewachsen in Hall bei Admont, lebte mit Familie in Liezen. 2002 lernte er die Sonder- und Volksschulpädagogin Heike Gründwald kennen, Hochzeit 2009, zwei Töchter, Hannah wird 6, Helena 2. Heike arbeitet ab Herbst wieder als Lehrerin.
Lebenslauf alpin Ab 2005 leitete er Expeditionen, seit 2010 konnte er als Profi vom Höhenbergsteigen leben. Galt als besonnen, erfahren und als genialer Stratege. Hat sieben 8000er bestiegen, alle im Alpinstil (in kleinen Seilschaften, ohne Sherpahilfe), darunter Mt. Everest und Nanga Parbat.
Pakistanhilfe Nach dem schweren Erdbeben 2005 organisierten Vater und Sohn Göschl 150 Tonnen Hilfsgüter für die Region Kaschmir, sie engagierten sich beim Bau von Schulen. Nach der Flutkatastrophe 2010 startete die Familie eine Hilfsaktion mit Benefizveranstaltungen und Spendenaufrufen.
-
Hauptartikel
-
Hintergrund