Ägypten: Gesetzgebung ist gesetzeswidrig
Von Stefan Schocher
Dieses Urteil hat es in sich: Am Sonntag sprach das oberste Verfassungsgericht in Kairo dem Oberhaus des Parlaments, dem Schura-Rat, die Legitimität ab. Ein Unterhaus existiert nicht. Ägypten hat damit mit einem Schlag keine Legislative mehr. Zwar, so der Richterspruch, könne der Schura-Rat noch bis zur Abhaltung von Neuwahlen im Amt bleiben, Gesetzte verabschieden dürfe er jedoch nicht mehr.
Das Urteil ist ein herber Schlag für die Führung von Präsident Mohammed Mursi und die Muslimbrüder, die gemeinsam mit den Salafisten das Oberhaus dominieren. Und es ist ein wichtiger Punktesieg für die Justiz in ihrem anhaltenden Konflikt mit den Muslimbrüdern.
Konkret heißt es in dem Urteil, dass das Wahlrecht, auf dessen Basis der Schura-Rat gewählt worden sei, nicht der Verfassung entspreche. Bereits im vergangenen Sommer hatte das Verfassungsgericht das Zustandekommen des Unterhauses auf Basis des selben Gesetzes für verfassungswidrig erklärt. Seither hatte der Schura-Rat praktisch alleine die Rolle der Gesetzgebung übernommen.
Das Urteil der Verfassungsrichter vom Sonntag geht aber noch weiter. Denn zugleich wurde die verfassungsgebende Versammlung für ungültig erklärt. Sie hatte vergangenen Winter ein neues Grundgesetz erarbeitet. Diese neue Verfassung war vor allem von Mursi vehement durchgeboxt und in einer Volksabstimmung bestätigt worden.
Überschattet war dieses Referendum allerdings von weitreichenden Vorwürfen der Wahlfälschung und dem Boykott säkularer Wähler. Und schon während der Erarbeitung des Gesetzes hatten säkulare Parteien kritisiert, sie würden von Muslimbrüdern und Salafisten übergangen.
Baldige Neuwahlen?
Mit dem Urteil vom Sonntag bricht Mursi damit nicht nur seine gesamte gefügige Gesetzgebung weg, sondern auch die von ihm so vehement erkämpfte neue Verfassung, die etwa islamischen Religionsgelehrten weitreichende Befugnisse einräumt.
Und der Richterspruch erhöht massiv den Druck auf ihn, Wahlen durchzuführen. Die Wahl eines neues Parlaments war an sich bereits für den April geplant gewesen, dann aber wegen der Wirtschaftskrise und Boykottaufrufen der Opposition abgeblasen worden. Zuletzt hatte Mursi Parlamentswahlen im Oktober in Aussicht gestellt.
Nicht klar war am Sonntag allerdings, in welchem gesetzlichen Rahmenwerk diese Wahlen stattfinden sollen. Denn zuletzt hatte der Schura-Rat vor allem an einem neuen Wahlgesetz gearbeitet. Jetzt ist ihm jede Beschlussfassung durch das Richterurteil untersagt.
Während die Muslimbrüder schäumen, pendelten die Reaktionen auf das Urteil in den Reihen der Opposition zwischen offener Freude und verhaltener Skepsis. Der ägyptische Oppositionspolitiker und einstige UNO-Spitzendiplomat Mohammed el-Baradei nahm via Twitter zu den Entwicklungen Stellung. Nun sei es nötig, ganz von vorne anzufangen und einen Konsens zu finden, um das Land vor dem Kollaps zu bewahren, schrieb er.