Entscheidende Tage für die Ukraine
Von Irene Thierjung
Unter lautem Jubel nahm der ukrainische Präsident Poroschenko am Sonntag die Militärparade zum Jahrestag der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 ab. Ein Ereignis mit Symbolwirkung – liegt sein Land doch wegen des Aufstands im Osten mit Moskau im Clinch.
Ob der Konflikt mit mehr als 2000 Toten und 330.000 Vertriebenen bald beendet wird, könnte sich diese Woche entscheiden: Morgen, Dienstag, trifft Poroschenko in der weißrussischen Hauptstadt Minsk seinen russischen Amtskollegen Putin. Die beiden nehmen an einem Gipfel der von Moskau geführten Eurasischen Union teil (die Ukraine ist nicht Mitglied). Auch EU-Außenbeauftragte Ashton, Handelskommissar de Gucht und Energiekommissar Oettinger werden in Minsk erwartet.
Unabhängigkeitstag in Kiew
Szenarien
Poroschenko geht mit Rückendeckung Deutschlands in die Gespräche. Am Samstag hatte Kanzlerin Merkel der Ukraine ihre volle Unterstützung zugesagt. Und sie drohte Russland mit neuen Sanktionen, sollte es einer diplomatischen Lösung weiter im Weg stehen. Außenminister Steinmeier zeigte sich jüngst zuversichtlich: "Ich habe den Eindruck, dass beide Seiten versuchen, doch einen Weg zum Waffenstillstand zu finden."
Doch welche Optionen gibt es für die Zeit nach einer möglichen Waffenruhe? Außenminister Klimkin wünscht sich weitreichende EU-Hilfen für Wiederaufbau und Stabilisierung des Landes, in Anspielung auf den US-"Marshall-Plan" zum Wiederaufbau Westeuropas nach dem Zweiten Weltkrieg "Merkel-Plan" genannt.
Ein Zerfall des Landes ist für die Ukraine, aber auch die EU keine Option. Möglich wäre eine Dezentralisierung des Landes mit mehr Autonomie der russisch-sprachigen Gebiete im Osten.
Um neue Konflikte mit Russland zu vermeiden, brachte Österreichs Außenminister Kurz am Wochenende eine Neutralität der Ukraine nach österreichischem Vorbild ins Spiel. Er wolle das seinen EU-Amtskollegen diese Woche vorschlagen, sagte Kurz der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. "Kurzfristig gibt es zwei Prioritäten: Frieden und Waffenruhe sowie humanitäre Hilfe", so Kurz. Doch sei es auch wichtig, langfristig zu denken. Man solle die Ukraine nicht zu einer Entweder-oder-Entscheidung zwischen Russland und EU drängen. Im militärischen Bereich wäre eine Neutralität oder Blockfreiheit eine Chance. "Für Österreich etwa war das ein erfolgreicher Weg". Wirtschaftlich schlägt Kurz eine Freihandelszone vor.
Für den Fall, dass die Kämpfe doch lange weitergehen sollten, baut die Ukraine vor. Bei der gestrigen Militärparade kündigte Poroschenko an, dass die Armee in den nächsten drei Jahren rund 2,2 Milliarden Euro zur Aufrüstung erhalten werde.
Das von EU-Ländern umschlossene Kaliningrad ist durch den von Kremlchef Wladimir Putin erlassenen Einfuhrstopp auf Lebensmittel aus der EU besonders betroffen. Der Gouverneur der russischen Exklave kann dem Embargo aber sogar Gutes abgewinnen: "Die Region gewinnt dadurch." Die Erklärung liefert Nikolai Zukanov gleich nach: Die Selbstversorgung durch die Landwirtschaft soll verstärkt werden.
Derzeit steigen in Kaliningrads Supermärkten die Preise, etwa um 20 Prozent bei Käse. Aus den Regalen verschwinden schon die ersten Waren. An den Grenzen stauen sich Autos von Einwohnern, die im Nachbarland Polen einkaufen wollen. Seit zwei Jahren läuft ein kleiner Grenzverkehr ohne Visumpflicht zwischen Kaliningrad, dem ehemaligen Ostpreußen, und Nordpolen – ein Abkommen aus noch einvernehmlicheren Zeiten.
Melonen aus Minsk
Moskau setzt indessen auf Minsk: Weißrussische Lebensmittel sollen vor allem in Kaliningrad die Lücken füllen, die das Embargo gegen den Westen hinterlassen hat.
Dies geschieht auch, aber anders als vorgesehen. In Kaliningrad gibt es zu teils horrenden Preisen "weißrussischen" Lachs und "weißrussischen" Parmesan. Waren aus Norwegen und Italien, die umetikettiert wurden, wie die polnische Zeitung Gazeta Wyborcza mutmaßt.
Weißrussland, das von Präsident Lukaschenko diktatorisch regiert wird, ist mit Kasachstan und Russland seit Mai in der Eurasischen Wirtschaftsunion, einem Gegenmodell zur EU (siehe auch oben). Minsk kann so seine Waren zollfrei nach Russland ausführen. Auch solche, die es zuvor selbst eingeführt hat. Minsk bestreitet, es sei eine profitable Schleuse für verbotene Westware. "Wir können bei uns sogar Melonen züchten, unsere Wissenschaftler sind einfach Teufelskerle!" verkündete Lukaschenko kürzlich. Im Kreml denkt man laut über eine Wiedereinführung der Zollbestimmungen nach.