Türkei: Koalition der Unzufriedenen wird breiter
Der Abend kam, und das Istanbuler Stadtviertel Besiktas verwandelte sich in ein Schlachtfeld. Wie schon in den vergangenen Tagen bekriegten einander Demonstranten und die Polizei, aber mit sehr ungleichen Waffen, zumindest zu Beginn der Zusammenstöße. Die Staatsmacht feuerte Tränengaskartuschen, teilweise gezielt auf die Körper der Demonstranten, und setzte Wasserwerfer ein. Die Demonstranten wehrten sich mit Steinen. Bis jemand auf die Idee mit dem Bagger kam: Mit dem gelben Baufahrzeug ratterten die Demonstranten im Stadtviertel Besiktas auf Sicherheitskräfte los.
Die Proteste haben ein erstes Todesopfer gefordert. Ein Mann starb am Montag in Istanbul, als ein Auto in eine Menschenmenge raste. Die Hintergründe sind unklar.
Der Angriff mit dem Bagger aber hat unter vielen Demonstranten für erheblichen Ärger gesorgt. Viele befürchten, dass radikale Kräfte sich an die zunächst friedlichen Protestaktionen hängen und diese für extreme Ziele ausnutzen könnten.
Aufruf gegen Gewalt
Eine Gruppe der Demonstranten rief deshalb am Montag über Facebook zur Gewaltlosigkeit auf. Wenn die Polizei angreife, dann sollten sich die Regierungsgegner zurückziehen und Zusammenstößen aus dem Weg gehen, hieß es bei „Occupy Turkey“. Doch andere Facebook-Nutzer sahen das ganz anders: Occupy heiße schließlich besetzen und nicht zurückziehen, hieß es in einer Antwort auf den Aufruf.
Eine weitere Eskalation würde dem bei den Demonstranten verhassten Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan in die Hände spielen. Dieser kann sich sicher sein, dass er die Mehrheit der Türken hinter sich hat, wenn bei Protestkundgebungen versucht wird, den Istanbuler Amtssitz des Regierungschefs zu stürmen, wie in Besiktas geschehen. „Sollen wir sie gewähren lassen und zusehen, wie sie die Büros der Regierung besetzen?“, fragte Erdogan am Montag.
Risse im Lager der Demonstranten waren in den ersten Tagen des Aufstandes noch nicht zu sehen gewesen. Vergangene Woche hatten sich kleinere Gruppen von Umweltschützern im Gezi-Park neben dem Taksim-Platz im Zentrum des europäischen Teil Istanbuls niedergelassen, um die geplante Abholzung von Bäumen in dem Park zu verhindern. Ein überharter Polizeieinsatz rief dann immer mehr Unterstützer auf den Plan.
Wut auf die Polizei
Geeint wurden die Demonstranten durch ihre Wut auf die Polizei, die in der Türkei fast gewohnheitsmäßig mit eiserner Härte reagiert, auch wenn es sich um friedliche Protestaktionen handelt, und auf Premier Erdogan, der vielen als selbstherrlicher Sultan erscheint.
Studenten, Dozenten, aber auch Arbeiter und Hausfrauen und sogar Wähler von Erdogans Regierungspartei AKP schlossen sich den Protestkundgebungen an. Selbst Anhänger der großen Istanbuler Fußballclubs Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas, die einander sonst mitunter bis aufs Blut bekriegen, marschierten in trauter Eintracht durch die Straßen und auf die Polizei zu. Ladenbesitzer um den Gezi-Park und den Taksim-Platz versorgten die Demonstranten mit Wasser, Hotels gewährten den von der Polizei durch die Straßen gejagten Kundgebungsteilnehmern Zuflucht.
Erdogan habe es geschafft, eine große Koalition der Unzufriedenen zu schmieden, sagte ein Istanbuler Intellektueller. In vielen Istanbuler Stadtvierteln meldeten sich auch Normalbürger zu Wort, die zwar nicht auf den Demonstrationen erschienen, aber ihre Unterstützung kundtaten: Sie schlugen nachts Töpfe und Pfannen zusammen. Sogar in einem schicken Istanbuler Einkaufszentrum wurde gegen Erdogan demonstriert.
Großen Eindruck auf Erdogan macht das nicht. Er halte seine eigenen Anhänger nur mit Mühe zurück, sagte der Ministerpräsident am Montag. Von der Kritik an seinem autoritären Führungsstil, der viele in der Türkei vor den Kopf stößt, will er nichts wissen. Für ihn gehen die Unruhen auf die Opposition zurück, die seiner AKP bei den in den kommenden zwei Jahren anstehenden Kommunal-, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen das Leben schwermachen will.
Anders als Erdogan bescheinigte Staatspräsident Abdullah Gül den Demonstranten dagegen, dass Demokratie nicht nur in der regelmäßigen Stimmabgabe an der Wahlurne bestehe. Jeder müsse sich in seinem eigenen Land frei fühlen können. Friedliche Demonstrationen gehörten dazu. Gül rief alle Türken zur Ruhe auf.
Twitter-Kritik
Erdogan stritt sich derweil lieber bei einer Pressekonferenz vor laufenden Kameras mit einer Reporterin der Nachrichtenagentur Reuters. Ohnehin hat der Ministerpräsident ein Problem mit der kritischen Medienberichterstattung über die Ereignisse der vergangenen Tage. Den Kurznachrichtendienst Twitter nannte er eine „Heimsuchung“ – nutzte ihn anschließend aber selbstverständlich weiter, um seine Sicht der Dinge unters Volk zu bringen.
Auch viele Demonstranten haben mit den Medien ein Hühnchen zu rupfen: Sie werfen den Nachrichtensendern des Landes vor, Berichte über die regierungsfeindlichen Unruhen nur spärlich gesendet oder völlig zurückgehalten zu haben.
Twitter und Facebook wurden deshalb in den vergangenen Tagen in der Türkei genutzt wie nie zuvor, zur Weiterleitung von Informationen über die Lage an der Protest-Front wie zur Nachrichtenübermittlung angesichts des Medien-Boykotts.
Mehr zu den Demonstrationen sowie eine Analyse des türkischen Politologen Baris Tugrul lesen Sie hier.
Verräter, Nestbeschmutzer!“ Eine Unmenge derartiger Grobheiten ist in den letzten Tagen auf dem Facebook-Konto von Efgani Dönmez eingetrudelt. Der grüne Bundesrat aus Oberösterreich nimmt gegenüber dem KURIER auch solche Gemütswallungen gelassen:„Da merkt man einfach, wie sehr die Entwicklung in der Türkei auch die Türken bei uns interessiert – und aufregt.“ Dönmez hat selbst öffentlich Stellung bezogen, und das ziemlich deutlich: „Mit dem aktuellen Vorgehen rückt die Türkei noch weiter von der EU ab. Die säkulär eingestellte Zivilbevölkerung braucht unsere Unterstützung.“, erklärte er per Aussendung.
Wenig überraschend, dass diese Haltung bei den regierungsfreundlichen türkischen Vereinen in Österreich für Unmut sorge. Auch weil die aktuelle Protestbewegung breit und vielseitig sei: „Das sind säkulär eingestellte Menschen, Intellektuelle, Vertreter von Minderheiten, aber auch Konservative.“ Was die alle derzeit in einer einzigen Protestbewegung vereinen würde, sei , „dass sie den Stil, wie in der Türkei Politik betrieben wird, nicht mehr akzeptieren wollen.“
Wie breit die Protestbewegung tatsächlich ist, hat Sema Sandrisser, Türkisch-Dolmetscherin in Österreich, gerade selbst erlebt. „Da demonstrieren Nationalisten neben Kurden, oder Hausfrauen mit Kopftuch“, schildert sie ihre Eindrücke der letzten Tage in Istanbul: „Der Park war ohnehin nur der Auslöser. Viele Leute haben einfach genug von der Richtung, in die diese Regierung das Land führt.“ Da ginge es um das Alkoholverbot, nicht-religiöse Feste, die auf einmal möglichst klein gehalten würden, die Kontrolle der Regierung über die meisten Medien: „Doch die Menschen regt ganz grundsätzlich auf, dass sich Erdogan zu sehr in ihr Privatleben einmischt. Warum redet die Regierung auf einmal mit, wie viele Kinder man bekommen soll?“ Sandrisser ist überzeugt, dass die Bewegung weitergehen wird, unabhängig von den alteingesessenen Oppositionsparteien. Die seien erstens in Grüppchen zersplittert und außerdem viel zu passiv: „Erdogan hat bisher geschafft, alle seine Gegner in Splittergruppen zu trennen. Diese Bewegung aber wird vor allem von der Jugend getragen, über alle Unterschiede hinweg.“
Die Massenproteste haben Türkei-Anleger tief verunsichert. Sie warfen am Montag türkische Aktien und Anleihen in hohem Bogen aus ihren Depots. Der Leitindex der Istanbuler Börse brach um bis zu 8,1 Prozent ein und markierte mit 79.047,74 Punkten den tiefsten Stand seit Anfang März. Das ist der größte Tagesverlust seit den Turbulenzen nach der Lehman-Pleite im Herbst 2008.
Am Rentenmarkt fiel der Kurs der richtungsweisenden zweijährigen Bonds auf ein 18-Monats-Tief von 97 Punkten. Im Gegenzug stieg die Rendite auf bis zu 6,67 Prozent von 6,05 Prozent am Freitag. Die der zehnjährigen Papiere erhöhte sich in der Spitze auf 7,1 von 6,77 Prozent. Auch die türkische Währung ging auf Talfahrt. Ein Dollar war mit 1,9005 Lira zeitweise so teuer wie zuletzt im Dezember 2011. Der Euro markierte mit 2,4726 Lira ein Eineinhalb-Jahres-Hoch.