Politik/Ausland

Türkei: 22-Jähriger bei Protesten getötet

Die Türkei kommt auch am Dienstag nicht zur Ruhe: Bei den regierungskritischen Protesten ist in der Nacht zum Dienstag Medienberichten zufolge ein 22-Jähriger getötet worden. Der Mann sei bei einer Demonstration im Süden des Landes von einem Unbekannten in den Kopf geschossen worden und im Krankenhaus seinen schweren Verletzungen erlegen, berichtete der private Sender NTV unter Berufung auf die Behörden der Provinz Hatay. Die Proteste fordern damit ihr zweites Todesopfer: Am Sonntag ist bereits ein Mann ums Leben gekommen. Er war bei einer Blockadeaktion von einem Auto überfahren worden.

Alle Inhalte anzeigen

Tränengas und Wasserwerfer

Die türkische Polizei setzte in Istanbul und in der Hauptstadt Ankara erneut Tränengas und Wasserwerfer gegen regierungskritische Demonstranten ein. Nach Angaben von Augenzeugen und dem Fernsehsender CNN-Türk gingen Beamte auf diese Weise in beiden Städten gegen hunderte Protestierende vor. Aus deren Reihen wurden demnach Steine auf Polizisten geworfen.

Alle Inhalte anzeigen

In Ankara setzte die Polizei laut CNN-Türk im Stadtteil Kavaklidere auch Gummigeschosse gegen Protestierende ein. Im europäischen Teil von Istanbul errichteten Demonstranten im Viertel Gümüssuyu Barrikaden und entzündeten Feuer. In beiden Städten fanden zudem weiterhin größere Demonstrationen statt, bei denen es trotz angespannter Atmosphäre zunächst ruhig blieb.

Gewerkschaften kündigen Warnstreik an

Unterdessen bekommen die Demonstranten Unterstützung: Türkische Gewerkschaften schließen sich den Protesten an. Für Dienstag ab 10:00 Uhr MESZ kündigte die linksgerichtete Gewerkschaft öffentlicher Bediensteter (KESK) den Beginn eines zweitägigen Warnstreiks ihrer 240.000 Mitglieder an.

Außenministerium warnt Reisende

Das österreichische Außeministerium hat für alle türkischen Städte eine erhöhte Sicherheitsgefährdung ausgesprochen. Es wird empfohlen, größere Menschenaufläufe unbedingt zu meiden und weiträumig zu umgehen. Weitere Unruhen könnten nicht ausgeschlossen werden.

Eine Analyse des türkischen Politologen Baris Tugrul zu den Ereignissen in der Türkei lesen Sie hier.

Erdogan: "Bald wieder Normalität"

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan rechnet nach eigenen Worten hingegen mit einem baldigen Abflauen der Proteste in seinem Land. Die Türkei werde innerhalb "weniger Tage" zur Normalität zurückkehren, sagte Erdogan am Montag bei einer Pressekonferenz während eines Besuchs in Marokko, wie die regierungsnahe Zeitung Today's Zaman berichtete.

Alle Inhalte anzeigen

Als nicht nachvollziehbar erachtete der Regierungschef Äußerungen des türkischen Staatspräsidenten Abdullah Gül, der gemeint hatte, die von den Protestierenden überbrachten Botschaften seien gehört worden. Erdogan wollte keinen weiteren Kommentar dazu abgeben.

Gül geht auf Distanz

Gül hatte zudem erklärt, Demokratie bedeute nicht nur Wahlen. Der einstige Mitkämpfer Erdogans in den Reihen der türkischen Islamisten ist in den vergangenen Jahren deutlich auf Distanz zum Ministerpräsidenten gegangen, dem seien Kritiker einen autoritären Führungsstil vorwerfen.

Medienberichten zufolge wollte Gül am Dienstag mit Vizepremier Bülent Arinc zusammentreffen, der in Abwesenheit Erdogans die Amtsgeschäfte führt. Es sei ein Meinungsaustausch über die landesweiten Proteste geplant, hieß es.

Vize-Premier wiegelt ab

Der türkische Vize-Premier Bulent Arinc hat nach hartem Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen Demonstranten abgewiegelt, aber die Entschlossenheit der Regierung bekräftigt. "Ich entschuldige mich bei denen, die Opfer von Gewalt geworden sind, weil sie sich für die Umwelt einsetzen", sagte Arinc am Dienstag in Ankara. Zugleich rief er die Demonstranten auf, ihre Proteste umgehend einzustellen.

Arinc gilt als konzilianter als Regierungschef Recep Tayyip Erdogan. Arinc kündigte noch für Dienstag ein Treffen mit Organisatoren der Proteste an. "Wenn es unterschiedlichen Meinungen, unterschiedliche Situationen gibt, dann ist nichts natürlicher, als dass diese geäußert werden können", sagte der Vize-Premier laut dem Sender BBC. Er wolle den Dialog suchen.

Alle Inhalte anzeigen

EU mahnt Erdogan

Nach der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, die bereits am Montag ausdrücklich die "unverhältnismäßige Gewalt der türkischen Polizei" bedauerte und "Zurückhaltung auf allen Seiten" forderte, mahnt nun auch der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz, die türkische Regierung. Deren Umgang mit den Demonstranten sei unvereinbar mit einer EU-Mitgliedschaft. "Um Mitglied der EU zu werden, muss man demokratische Standards einhalten. Wir sehen: Dazu ist er (Recep Tayyip Erdogan, Anm.) in ganz bestimmten Momenten nicht bereit", sagte der deutsche Sozialdemokrat am Dienstag im ARD-Morgenmagazin.

Deutliche Kritik an Erdogan und dem Vorgehen der türkischen Exekutive übt auch Außenminister Michael Spindelegger. Die Reaktion auf die friedlichen Proteste in Istanbul und anderen Orten "werfe kein gutes Licht auf die Regierung", erklärt der Vizekanzler in der Presse. Spindelegger warnt die Türkei explizit vor einer "Belastungsprobe in den Beziehungen zur EU." Die türkische Regierung müsse "Bürgerrechte, Demonstrationsfreiheit und Meinungsfreiheit unter allen Umständen wahren". Mit ihrem "unverhältnismäßigen und besorgniserregenden Vorgehen" schütte die türkische Polizei noch Öl ins Feuer der Proteste.

Spindelegger: "Das zeigt, dass in den Demonstrationen eine breitere soziale Unzufriedenheit zum Ausdruck kommt. Die Regierung sollte daher die Anliegen ernst nehmen und den Dialog suchen."

Finanzmärkte im Keller

Auch die Finanzmärkte reagieren mittlerweile stark negativ auf die Proteste - so fielen die Börsenkurse in den vergangenen Tagen um mehr als zehn Prozent, die türkische Lira erreichte am Montag ihren niedrigsten Stand seit 16 Monaten.

Auslöser Gezi-Park

Auslöser für die heftigen Zusammenstöße zwischen Demonstranten und der Polizei war die gewaltsame Auflösung von Protesten gegen den Bau eines Einkaufszentrums im beliebten Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul am Freitag (die Chronologie dazu siehe unten).

Alle Inhalte anzeigen

Eine junge Frau in einem roten Sommerkleid steht auf einem Rasen. Links von ihr hat sich eine Phalanx behelmter Polizisten aufgebaut. Einer von ihnen besprüht die Frau offensichtlich mit einer kräftigen Dosis Pfefferspray, so dass ihr die langen schwarzen Haare zu Berge stehen. Zwei andere junge Frauen nehmen erschrocken Reißaus.

Das inzwischen im Internet weit verbreitete Foto wurde vom Reuters-Fotografen Osman Orsal im Gezi-Park am Taksim-Platz in Istanbul geschossen. Dort hatten die seit Tagen anhaltenden Demonstrationen gegen den islamisch-orientierten und autoritär agierenden türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan begonnen.

Alle Inhalte anzeigen

Das Foto der "Lady in Red" wurde inzwischen zu einem Symbol der Protestbewegung. So sind die jungen Frauen auf dem Bild nicht verschleiert - anders als etwa Erdogans Gattin. Die Dame im roten Kleid könnte gerade aus ihrem Büro gekommen zu sein, als sie Opfer der rüden Attacke wird. Die Vorgänge auf dem Foto symbolisieren für viele Beobachter das Verhältnis zwischen Staatsmacht und ihren Bürgern in der Türkei.

Das Bild wurde auch in einem Blog der an sich regierungsnahen Zeitung Today's Zaman veröffentlicht. Darunter schrieb der Autor Mahir Zeynalov: "Die derzeitigen Versuche, die Menge durch exzessive Gewaltanwendung zum Schweigen zu bringen werden nur viele andere dazu bewegen, sich dem Protestreigen anzuschließen."

Noch in der vergangenen Woche war es lediglich ein lokaler Protest gegen eine Städtebau-Projekt in Istanbul, inzwischen hat der Proteststurm in der Türkei mehr als 60 Städte erfasst. Eine Chronologie der Ereignisse:

28. Mai: In der Millionen-Metropole Istanbul gibt es eine Demonstration gegen den Bebauungsplan im Gezi-Park in der Nähe des Taksim-Platzes. Erdogans Partei will dort ein osmanisches Kasernengebäude aus dem 18. Jahrhundert nachbauen und darin Cafés, Museen oder auch ein Einkaufszentrum unterbringen.

31. Mai: Die Polizei in Istanbul setzt Tränengas gegen mehrere hundert Demonstranten ein. Es gibt mindestens zwölf Verletzte.

1. Juni: Die Proteste in Istanbul werden gewalttätiger, die Demonstranten werfen Steine und Flaschen, die Polizei setzt Tränengas und Pfefferspray ein. Der Funken springt auf andere Städte über. Amnesty International spricht von hundert verletzten Demonstranten. Erdogan räumt "einige Fehler" im Verhalten der Polizei ein, die vom Taksim-Platz abgezogen wird. Dort rufen die Demonstranten nun auch: "Regierung, tritt zurück!"

2. Juni: Erste große Protestkundgebung in der Hauptstadt Ankara: Rund tausend Demonstranten versuchen zum Regierungssitz zu ziehen. Die Polizei setzt Wasserwerfer und Tränengas ein. Amnesty International beklagt, mehrere Demonstranten seien durch das Tränengas erblindet. Die Angaben zur Bilanz der Auseinandersetzung gehen nun weit auseinander: Innenminister Muammer Güler spricht von 58 verletzten Zivilisten und 115 verletzten Polizisten landesweit. Er gibt die Zahl der Festgenommenen mit 1.700 in 67 Städten an. Menschenrechtsgruppen bilanzieren ihrerseits inzwischen 1.000 Verletzten in Istanbul und 700 in Ankara.

3. Juni: Präsident Abdullah Gül versichert den Demonstranten, ihre Botschaft sei "angekommen". Erdogan seinerseits will nicht zurückstecken und lehnt es vehement ab, in Anlehnung an den Arabischen Frühling nunmehr auch von einem Türkischen Frühling zu sprechen. In der Provinz Hatay wird laut dem Sender NTV ein 22-jähriger Demonstrant von einem Unbekannten angeschossen und so schwer verletzt, dass er im Krankenhaus stirbt.

- Das NRC Handelsblad (Rotterdam) sieht Erdogans Schwäche in seiner Reaktion auf die Proteste:

"Der Ministerpräsident scheint sein demokratisches Mandat immer mehr als Freibrief zur Durchsetzung seines Willens aufzufassen, ohne Rücksicht auf jene Teile der Gesellschaft, die seine Ansichten nicht teilen. (...) Die Schwäche des Ministerpräsidenten lag in den letzten Tagen nicht in der Tatsache, dass sich in vielen Städten massiver Widerstand gegen ihn und seine Regierung rührte. Seine Schwäche kam vor allem durch seine Reaktion zum Ausdruck: Er rief zwar zur Ruhe auf, aber in so bitteren und provozierenden Worten, dass er die Wut seiner Kritiker auf der Straße - er nannte sie "Banditen" - nur noch mehr anfachte. Noch ist es nicht zu spät für Erdogan, seine Reaktion und seinen Ton anzupassen. Ein erfahrener Führer mit einer soliden Mehrheit im Parlament muss Signale der Unzufriedenheit ernst nehmen."

Alle Inhalte anzeigen

- Laut El Pais (Madrid) wird es Zeit, dass Erdogan seine überzogene Arroganz ablegt :

"Die Türken wehren sich dagegen, dass die Regierungspartei mit ihren islamistischen Wurzeln sich in ihr Privatleben einmischt. Erdogans autoritären Instinkte zeigen sich zum Beispiel bei den Einschränkungen für den Alkoholkonsum oder bei den Inhaftierungen von Journalisten. Die Regierung hat für die Türkei viel erreicht. Dazu gehört die Disziplinierung von Generälen, die sich früher gerne in die Politik einmischten. Aber der Regierungschef darf seinen Landsleuten nicht seine Ansichten aufzwingen. Die Proteste zeigen, dass die Demokratie und die Zivilgesellschaft in der Türkei Fuß fassen. Nun wird es Zeit, dass Erdogan seine überzogene Arroganz ablegt und die Botschaft versteht."

- Politiken (Kopenhagen) empfiehlt Erdogan, nicht in sein eigenes Spiegelbild zu schauen:

"Erdogan kann eine gewissen Selbstbestätigung finden, wenn er in den Spiegel der türkischen Geschichte schaut. Aber man sollte nicht in sein eigenes Spiegelbild schauen. Er war in jungen Jahren ein Teil einer politisch-religiösen Partei, die verboten war. Er hat die Unterdrückung religiöser Kräfte selbst erlebt. Wenn er nun in den Spiegel schaut, wird er sehen, dass er die politischen Methoden übernommen hat, gegen die die zivile Türkei stets gekämpft hat. (.) Jetzt ist er dran, demokratische Großzügigkeit zu zeigen. Zuzuhören statt zu reden. Seine Kritiker einzuladen, sich zu entfalten, und nicht die Polizei auf sie zu hetzen. Die Straßenproteste kann man nicht als das Werk der säkularen Opposition abtun."