Politik/Ausland

Jeder dritte Syrer ist auf der Flucht

Das Camp Saatari, mitten in der jordanischen Wüste, zwölf Kilometer von der syrischen Grenze entfernt. Von einem Flüchtlingslager kann man eigentlich gar nicht mehr sprechen, es handelt sich um einen riesigen, staubigen Moloch. Ausgelegt für 30.000 Flüchtlinge, drängen sich in dem Notquartier aktuell 130.000 Syrer. Täglich kommen 2000 neue hinzu. Und täglich werden 13 Kinder an diesem Ort der Trostlosigkeit geboren. Saatari ist schon die viertgrößte „Stadt“ in Jordanien. Die UNO verteilt pro Tag 500.000 Stück Brot und 4,2 Millionen Liter Wasser. Die Kosten für die Flüchtlingshilfe allein hier: Eine halbe Million Dollar – täglich.

Dennoch sind die Zustände katastrophal. Gewalt, sexuelle Übergriffe und Zwangsverheiratungen stehen auf der Tagesordnung. Rivalisierende Gruppen prallen immer wieder aufeinander. Die Lager-Mafia presst die letzten Dollar aus den in Saatari Gestrandeten heraus: Um einen Stand auf dem Marktplatz zu eröffnen, muss man an die 1000 Dollar zahlen.

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Es handle sich um „eine beschämende humanitäre Katastrophe in einem in der jüngeren Geschichte beispiellosen Ausmaß“, sagte der UN-Hochkommissar für Flüchtlinge, Antonio Guterres, der am Dienstag die neusten Zahlen veröffentlichte. Demnach hat der Flüchtlingstreck jetzt die Zwei-Millionen-Marke überschritten (siehe Grafik), eine Million davon sind Kinder und Jugendliche unter 17 Jahren. Die Dunkelziffer liegt aber noch viel höher, da sich etwa in der Türkei oder im Libanon viele gar nicht registriert haben, weil sie bei Verwandten Unterschlupf gefunden haben oder über ausreichend Barmittel verfügen.

Libanon trägt Hauptlast

„Der einzige Trost ist die Menschlichkeit, die benachbarte Länder aufbringen“, fügte Guterres an, der einen dringenden Appell an die internationale Staatengemeinschaft richtete, den Geldhahn weiter zu öffnen. Hintergrund: 97 Prozent der zwei Millionen Vertriebenen fanden in der Region Zuflucht, die mit dem Ansturm überfordert ist. Sogar das krisengebeutelte Ägypten nahm 110.000 Syrer auf.

Gemessen an der Einwohnerzahl trägt aber der Libanon die größte Last. Laut UNO sind dort 716.000 syrische Flüchtlinge registriert – das ist ein Sechstel der Gesamtbevölkerung des Zedernstaates. Umgelegt auf Österreich bedeutet das, dass die Alpenrepublik fast 1,4 Millionen Flüchtlinge zu verkraften hätte.

Vor diesem Hintergrund warnte die US-Schauspielerin Angelina Jolie, die als Sonderbotschafterin die Arbeit des UN-Flüchtlingshochkommissariats unterstützt, davor, dass „einige Nachbarländer an den Rand des Zusammenbruchs geraten“ könnten.

Rechnet man die ins Ausland Geflohenen und die 4,25 Millionen syrischen Binnen-Flüchtlinge zusammen, ergibt das einen dramatischen Befund: Durch die Kriegswirren ist fast schon jeder dritte Syrer (Gesamtbevölkerung: 20 Millionen) auf der Flucht.

Und immer mehr drängen nach Europa (siehe auch rechts). Erst am Montag wurde ein Schiff mit syrischen Flüchtlingen vor der Küste Italiens abgefangen. Eine Frau überlebte die Überfahrt nicht. Allein heuer sind 3000 Syrer nach Italien gekommen.

Satellitenbilder des Flüchtlingslagers Saatari

Die Flüchtlingswelle aus Syrien hat zunehmend auch Auswirkungen auf Europa. Bulgarien rechnet bis Jahresende mit bis 10.000 Flüchtlingen aus Syrien, sagte Innenminister Zwetlin Jowtschew am Dienstag. Die Flüchtlingslager im Land seien jetzt schon voll. Die CDU- und CSU-geführten deutschen Bundesländer wollen Flüchtlinge über die 5000 hinaus aufnehmen, die Deutschland im Frühjahr beschlossen hat – Nordrhein-Westfalen kündigte bereits die Aufnahme 1000 weiterer Syrer an. Und Schweden will 8000 syrischen Flüchtlingen unbefristeten Aufenthalt gewähren – betroffen seien alle Syrer, die zuvor schon eine auf drei Jahre beschränkte Aufenthaltsgenehmigung erhalten haben, teilte die Einwanderungsbehörde in Stockholm mit.

Österreich bleibt bei der am Wochenende angekündigten zusätzlichen Aufnahme von 500 Syrern, vorwiegend Frauen und Kinder, Christen, aber auch Nicht-Christen, „wenn diese dringend Schutz und Hilfe brauchen“, wie Außenminister Michael Spindelegger sagte. Außen- und Innenministerium verweisen gleichlautend darauf, dass nach der deutschen Ankündigung über 5000 Flüchtlinge faktisch noch nicht viel passiert sei, dass es also nicht um die Nennung höherer Zahlen, sondern um die Umsetzung der Aufnahme gehe.

Am Dienstag trafen Vertreter des Flüchtlingshilfswerks UNHCR mit österreichischen Organisationen zusammen, um die Aufnahme der 500 Syrer zu organisieren. Das Bundesland Tirol kündigte bereits an, 50 davon zu übernehmen.

Schon jetzt stellen im Schnitt 100 syrische Flüchtlinge pro Monat Asylanträge in Österreich (das ist um die Hälfte mehr als im Vorjahr), mehr als 80 Prozent werden positiv erledigt. In den vergangenen 18 Monaten erhielten etwa 1300 syrische Flüchtlinge Asyl in Österreich.

Inmitten der Hochspannung um einen möglichen Militärschlag gegen das Assad-Regime sorgte am Dienstagmorgen ein Raketentest im Mittelmeer für Aufregung. Russisches Radar ortete um 8.16 Uhr den Start zweier ballistischer Raketen mit Kurs auf das östliche Mittelmeer – Verteidigungsminister Sergej Schogui informierte Präsident Wladimir Putin über die Raketenstarts.

Die USA wiesen sofort jede Verantwortung für Raketenabschüsse zurück, auch Israel wollte zunächst nichts über Raketen wissen, ehe eine Sprecherin des israelischen Verteidigungsministeriums bekannt gab: Es habe sich um einen Test gehandelt, eine Rakete vom Typ Anchor sei für einen Abschuss abgefeuert worden. Israel habe bei dem Test mit den USA zusammengearbeitet.

Unterdessen hat US-Präsident Barack Obama für seine bevorstehende Kongress-Abstimmung über einen Militärschlag in Syrien Rückhalt von zwei einflussreichen Senatoren bekommen. Die republikanischen Außenpolitiker John McCain und Lindsey Graham äußerten sich nach einem Gespräch mit Obama im Weißen Haus positiv. „Wir haben noch immer große Bedenken“, sagte McCain nach dem Treffen. „Aber wir glauben, es entwickelt sich eine Strategie, um die Möglichkeiten der Freien Syrischen Armee zu stärken und die von Bashar Assad zu schmälern.“ (Mehr dazu lesen Sie hier).

Selten noch war in Frankreich die Bevölkerung derartig skeptisch und unmotiviert gegenüber einem möglichen Militäreinsatz wie zurzeit in Bezug auf die von Francois Hollande angestrebte Teilnahme an einer Strafaktion gegen das syrische Regime. Der sozialistische Staatschef hatte sich unmittelbar nach dem jüngsten Giftgaseinsatz in Syrien als entschlossenster Verbündeter der USA und sogar Vorreiter für eine Operation profiliert. Kritiker sahen darin einen eher leichtfertigen Versuch, an den Erfolg der französischen Blitzkampagne gegen die Dschihadisten-Verbände in Mali am Anfang des Jahres anzuknüpfen. Und damit auch wieder Einfluss für das noch immer wirtschaftlich schwächelnde Frankreich einzustreichen und seine eigene, angeschlagene Autorität aufzurichten.

Alleingang ausgeschlossen

Jetzt, nach Ausscheiden Großbritanniens und noch mehr seit US-Präsident Obama, die Entscheidung auf das Votum des Kongresses abgeschoben hat, wirkt Hollande isoliert und hilflos. Ein militärischer Alleingang Frankreichs wird auch im Kreis um den Präsidenten ausgeschlossen. Hollande baumelt also vorerst an der amerikanischen Entscheidung, was in keinem westeuropäischen Land, und schon gar nicht in Frankreich, als besonders prestigeträchtig erscheint.

Gleichzeitig hat der syrische Präsident Assad in einem Interview im Pariser Blatt Figaro, in seiner üblichen, unterschwelligen Art gedroht, es werde „Auswirkungen, wohl gemerkt negative, auf Frankreichs Interessen“ geben. Was das bedeutet, weiß die französische Öffentlichkeit nur zu gut: 1983 waren bei einem Anschlag durch Verbündete Syriens im Libanon gegen Stützpunkte multinationaler Truppen 58 französische Soldaten getötet worden. Zurzeit stehen 900 französische UN-Soldaten im Südlibanon in Reichweite der Damaskus-treuen Hisbollah-Miliz.

Mehrheit gegen Militäraktion

Schon zuvor hatten sich bei einer Umfrage 64 Prozent der Franzosen gegen eine Militäraktion ausgesprochen. Bekräftigt wird diese Stimmung durch die Haltung der Politiker: sieht man einmal von der Regierungsspitze ab, hat man den Eindruck, dass auch die Befürworter einer Militäraktion, quer durch die moderaten Großparteien, im Grunde genommen unsicher sind und ähnlich wie Obama die Entscheidung auf eine Parlamentsvotum abschieben wollen.

Dieses ist zwar laut Verfassung und Usus bei einem Kriegsentscheid des Staatschefs in Frankreich nicht vorgeschrieben, wird aber jetzt in Regierungskreisen auch nicht mehr ausgeschlossen. Präsident Hollande sieht sich freilich am längeren Ast, weil er davon ausgeht, dass der Westen letzten Endes um einen Einsatz in Syrien nicht umhin kommen wird. Wobei er sich bereits auf einen bedeutenden Kern der SP-Wähler, und darunter viele französische – sunnitische – Muslime, stützen kann, die die Tatenlosigkeit angesichts der Massaker in Syrien nur schwer verkraften.