Politik/Ausland

Geplatzter Traum von Hilfe daheim

Roggen, so weit das Auge reicht. Die Ähren sind prall. Die Halme reichen Anastassia Dolgopolowa schon bis zu den Hüften. Doch Ende August, wenn die Nachbarn das Korn einfahren, will Anastassia ihre Ernte verbrennen. Öffentlich.

Die Video-Botschaft auf You-Tube, adressiert an Präsident Wladimir Putin, klickten bereits Tausende Internet-User in Russland an. Weil die Geschichte eine sehr russische ist. Die eines Traumes, der als Albtraum endete. Anastassia erzählt sie mit müder Stimme.

Als Retourkutsche für westliche Sanktionen wegen der Ukraine-Krise verhängte Russland am 6. August letzten Jahres ein Importverbot für EU-Lebensmittel. Fast gleichzeitig lief ein von Putin selbst auf den Weg gebrachtes Förderprogramm für Start-ups in Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie an, um wegfallende Importe auszugleichen. Angesprochen fühlte sich auch Anastassia, 20, die in Kursk, 500 km südlich von Moskau, Agronomie studierte. "Ich wollte meinem Land helfen und Farmer werden."

Abgebrannt

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Zunächst lief alles bestens. Anastassia bekam sogar einen Termin bei Gouverneur Alexander Michailow. Der wies den Landrat von Chomutowka an, der Studentin 100 Hektar Land und eine herrenlose Lagerhalle zur Nutzung zu überlassen. Das Land bekam sie, die Halle boten lokale Beamte ihr für umgerechnet 25.000 Euro zum Kauf an. In einem russischen Dorf ziemlich viel Geld.

Doch nur drei Tage nach dem Ukas des Gouverneurs brannte die Halle ab. Anastassia hat die Konkurrenz in Verdacht: Ein landwirtschaftlicher Großbetrieb, der noch intakte Träger in rekordverdächtigem Tempo demontierte und verschrotten ließ. Und als sie mit Putins Förderprogramm in der Hand um Kredite bat, holte sie sich auch bei staatsnahen Banken eine Abfuhr. "Der Präsident ist weit, hier entscheide ich." So jedenfalls stellt die junge Frau ihre Unterredung mit einem Filialleiter dar.

Auch bei einem Wettbewerb für Agrar-Nachwuchs schmetterten die Juroren ihr Projekt ab: Zu wenig Land – mindestens 1000 Hektar – und keine eigene Technik. "Welcher Start-up", fragt sie, eher rhetorisch, den Präsidenten und sich selbst, "kann das vorweisen?"

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Mit angemieteter Technik und auf Pump gekauftem Saatgut gelang es ihr dennoch, auf 60 Hektar Roggen auszusäen. Weil sie ihn weder ernten noch lagern kann und keine Lust hat, die "Früchte knochenharter Arbeit Aufkäufern für ein Butterbrot zu überlassen", will sie ihn jetzt anzünden. Auch um andere Patrioten zu warnen: "Sie sollen sich gut überlegen, ob sie sich das antun müssen."

Aufgeschreckt von unfreundlichen Online-Kommentaren, reagierte inzwischen sogar der eigentliche Adressat. Anastassia Dolgopolowa sei "astronomisch verschuldet" und nicht kreditwürdig, , sagte Putins Pressesprecher zu Interfax.

Wegen ähnlicher Probleme musste das Lenin-Staatsgut im Gebiet Moskau die gesamte Erdbeer-Ernte auf dem Felde verfaulen lassen. Auch der britische Milchbauer John Kopiski, der vor 20 Jahren mit Hochleistungsvieh nach Russland kam, warf im Juli das Handtuch. Putin hatte ihm und seiner russischen Ehefrau bei der Bürger-Hotline im April ausdrücklich Hilfe zugesagt. Doch nichts geschah.

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Inzwischen hat Russland einen neuen Landwirtschaftsminister. Alexander Tkatschow, der schon als Gouverneur von Krasnodar stets ein offenes Ohr für die Nöte des AIK hatte – des Agrar-industriellen Komplexes: landwirtschaftlichen Großbetriebe mit Produktion und Verarbeitung unter einem Dach. Bisher wagte es noch kein Minister, sich mit der Lobby der Großagrarier anzulegen.

"Volksfeind Parmesan"

Mit dem Embargo für EU-Lebensmittel fiel beim AIK die letzte Beißhemmung. Die Preise für Agrarerzeugnisse haben seither deutlich angezogen. Pünktlich zum Jahrestag der Einfuhrstopps holte Tkatschow sich von Putin das Okay für die Vernichtung "illegal eingeführter Lebensmittel". Sie kommen vor allem über Weißrussland und Kasachstan. Russland, ätzte Radio Echo Moskwy, habe einen neuen Volksfeind: Parmesan.

Kontrollgang im Supermarkt in Kaliningrad: "Es gibt alles, jeder Artikel ist vorhanden", sagt Dietmar Fellner, Österreichs Wirtschaftsdelegierter, im Gespräch mit dem KURIER. "Das Obst stammt aus Israel, Marokko oder der Türkei. Ich habe sogar Käse aus Argentinien und Chile gesehen." Was es nicht gibt, sind Milchprodukte, Fleisch und Wurst aus der EU – sie kommen aus der Schweiz, Weißrussland oder Russland selbst.

Bei den Exportzahlen ist der Einbruch unübersehbar: Österreichs Ausfuhren sind von Jänner bis April 2015 gegenüber dem Vorjahr um 39 Prozent gesunken. Der Schaden könnte von Dauer sein: Denn Moskau hat den Einfuhrstopp für EU-Lebensmittel kürzlich gleich bis Juli 2016 verlängert. Verhängt wurde er im Sommer 2014 als Antwort auf die Sanktionen des Westens. Jetzt wolle Moskau den neuen Lieferanten langfristige Investitionssicherheit geben. Das heißt: Auch nach einem Ende der Sanktionen könnte nicht sofort wieder voll geliefert werden. "Die Oberschicht wird wieder französischen Blauschimmelkäse wollen. Aber die meisten Leute haben ihren Geschmack umgestellt", sagt Fellner. Skurril: Speck darf importiert werden, weil er für die Weiterverarbeitung gebraucht wird. Und italienischer Prosciutto gilt offiziell als Speck. Auch laktosefreie Milchprodukte für Allergiker sind mittlerweile erlaubt.

Die zugelassenen Exporte leiden freilich unter geringer Nachfrage: Der Rubel ist schwach, Investitionen gibt es wegen der Kreditklemme kaum. In Kaliningrad könnten sich Geschäftsmöglichkeiten rund um die Fußball-WM 2018 auftun: Die Stadt in der Enklave an der Ostsee ist ein Austragungsort.