Politik/Ausland

Reportage: Flüchtlinge stoppen das Dorfsterben

Ganz Europa schottet sich vor Flüchtlingen ab. Ganz Europa? Nein. Der Bürgermeister der süditalienischen Gemeinde Riace hat einen anderen Plan.Seit vielen Jahren holt Bürgermeister Domenico Lucano Flüchtlinge in das Küstendorf Riace im süditalienischen Kalabrien. Menschen auf der Flucht erhalten eine neue Heimat und die einst sterbende 2000-Seelen-Gemeinde erwacht zu neuem Leben. Für seine Vision wurde Lucano nun vom US-Magazin Fortune unter die fünfzig mächtigsten Menschen der Welt gewählt. Als einziger Italiener im Ranking belegt er Platz 40 und teilt sich das Privileg unter anderem mit Kanzlerin Angela Merkel oder Papst Franziskus.

Mächtiger Einsatz

Auch wenn "Mimmo" Lucano, wie er im Dorf gerufen wird, mit dem Attribut "mächtig" nichts anfangen kann: "Ich muss gestehen, dass mir die Beschreibung am Anfang gar nicht gefiel, denn ich will nicht mächtig erscheinen. Dann dachte ich mir aber, wenn unser Einsatz über die Grenzen Italiens bekannt wurde und geschätzt wird, könnte unsere Arbeit zur Normalität auch für andere Dorf- und Stadtverwaltungen werden", hofft der 58-jährige Bürgermeister.

Nach der Schließung der Balkanroute rechnet man in Italien erneut mit einem Anstieg an Flüchtlingsankünften. In den vergangenen fünf Tagen musste die Küstenwache insgesamt 3700 Personen auf der Überfahrt von Libyen nach Italien gerettet.

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Riace liegt wenige Kilometer vom Meer entfernt. Wie viele Orte Kalabriens hatte es auch mit starker Abwanderung und hoher Arbeitslosigkeit zu kämpfen. Doch dank der neuen Bewohner – mehr als ein Viertel stammt aus dem Ausland – erwachte das Dorf zu neuem Leben. Insgesamt 20 Nationen sind vertreten: Die meisten Flüchtlinge kommen aus Afghanistan, Eritrea, Senegal und Mali. Alle riskierten bei der Überfahrt über das Mittelmeer ihr Leben, bevor sie schließlich im Süden Italiens vorübergehend oder permanent eine neue Heimat fanden.

Das ungewöhnliche Integrationsprojekt sorgte international für Aufmerksamkeit. Regisseur Wim Wenders drehte den Film "Il Volo" über Riace. "Hier gibt es keine Auffanglager, sondern echte Häuser und Wohnungen für Flüchtlinge", bemerkt Lucano stolz. Das Fortune-Magazin lobt sein Engagement, mit dem sich Lucano auch der Mafia widersetzt.

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Das Modell könnte als Lösung für die Flüchtlingsfrage in Europa dienen. Das Innenministerium finanziert das Projekt mit: Für jeden Flüchtling, den die Gemeinde aufnimmt, werden 25 Euro pro Tag bezahlt. Das entspricht der Hälfte dessen, was den Staat die Unterbringung in einem Auffanglager kostet.Mit dem Geld aus Rom berappt der Bürgermeister Löhne und Unterkünfte. Sein Verein ist der größte Arbeitgeber im Ort. Mehrere Handwerksbetriebe, eine Bäckerei, eine Bar und eine Pizzeria wurden eröffnet. Die Schule musste dank der Einwandererkinder nicht geschlossen werden. Für die meisten Flüchtlinge bleibt Riace eine Zwischenstation: 6000 Personen wohnten in den vergangen Jahren vorübergehend hier. Rund 300 Personen haben sich dauerhaft im "Dorf der Begegnung" niedergelassen, wie am Ortsschild steht.

Sehnsucht nach der Heimat

Was Emigration heißt, hat Lucano selbst erlebt, wenn auch im eigenen Land: Aus ökonomischen Gründen zog er einst nach Turin, wo er als Chemielehrer arbeitete. Seine Frau lebt heute in Siena, seine Kinder studieren in Rom. Für Domenico wurde die Sehnsucht nach seiner "Heimat" so groß, dass er zurückkehrte.